Emile Zola half 1898 mit, die französische Dritte Republik vor einem Versinken in Amoral und Antisemitismus zu bewahren: Schlüsseljob des Intellektuellen.

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Nichts haben Pandemie-Geplagte in diesen Wochen stärker verinnerlicht als das Gebot, bis auf Widerruf voneinander Abstand zu halten. Die Befehlsform ist der Aussagemodus der Stunde. Vertreter von Bundesregierungen in aller Welt lassen nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass einzig sie es sind, die die Angehörigen ihrer Staatsvölker ordentlich besachwalten. Mit der Zusatzidee, eine App auf den iPhones der Bürger zu installieren, wird der Zugriff auf Leiber und Leben – wenigstens der Absicht nach – zur gleichsam allumfassenden Praxis.

Corona macht aus liberalen Demokratien Bewegungsmeldeämter. Wer früher Michel Foucaults Praktiken der Macht für Übertreibungen hielt, wird sich jetzt die Augen reiben. Staaten, so der (gesundheitspolitisch vielleicht notwendige) Erweis, unterhalten Sicherheitsregime. Die platonische Idee der philosophischen Herrschaftsform hat somit ihre entscheidende Abwandlung erfahren. Staatslenker treten jetzt als Quarantänebevollmächtigte auf. In deren Absicht liegt es, Churchill umzudrehen. Nicht Schweiß, Blut und Tränen sollen zur Verteilung gelangen, sondern im Gegenteil: Das Versprühen ansteckender Tröpfchen muss mundnah unterbunden werden.

Trost durch Imagination

Der klassische Garant von Meinungs- und Bewegungsfreiheit schlüpft in die sterile Tracht des Immunologen. Die Rückkehr zur Liberalität aber wird einer Zukunft anheimgestellt, die, ob der augenblicklich obwaltenden Zwangsmaßnahmen, womöglich keinen Platz mehr lässt für dissidente Meinungen. Die augenblicklich zu Hausarrest verdonnerten Intellektuellen leben vom Trost durch Imagination: Diese meint die Wiederherstellung ihrer Wirksamkeit als kritische Instanz.

Ist der Staat als immunologischer Hausvater am Wort, hat der aufsässige Bürger Pause. In den Stunden der Not schlägt die Stunde der Verantwortungsethiker. Bereits Max Weber merkte in dem Vortrag "Politik als Beruf" an, dass der "sterilen Aufgeregtheit" der Intellektuellen die ruhige Sachlichkeit der Berufspolitiker vorzuziehen sei. Politiker besäßen "Augenmaß und Kompetenz". Die verantwortungslosen Intellektuellen hingegen verfielen einer "ins Leere laufenden Romantik" des bloß Interessanten.

Los des Expertentums

Ihr Los sei es, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen. Noch dem Wissenssoziologen Arnold Gehlen galten solche Krakeeler und Besserwisser 1978 als bloße Meinungsmacher und "Mundwerksburschen". Immer schon zieht derjenige, der dagegen redet, gegenüber dem Experten den Kürzeren. Die auf Verallgemeinerung basierende "humanitaristische Gesinnungsethik" (Gehlen) kennzeichnet die angeblich freischwebende Position des Intellektuellen. Es gehört zur ironischen Dimension der aktuellen Sachlage, dass der verordnete "freie Umraum" die Menschen – gerade solche, denen genügend Worte des Widerspruchs auf der Zunge lägen – von der Realität abschneidet. Unklar erscheint, ob z.B. das Medium der Zoom-Konferenz andere, sozialere Foren der öffentlichen Meinungsbildung aufs Geratewohl ersetzen kann.

Es werden neue, gemeinschaftliche Anstrengungen vonnöten sein, das Bild des milde aufsässigen Intellektuellen in der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Und dies nicht nur, weil solche Einrichtungen ab kommenden Herbst großzügiger denn je alimentiert werden müssen.

Es tut vielleicht gut, an Emile Zola zu erinnern, der 1898 sein "J‘accuse" in die Öffentlichkeit hinausdonnerte. Der Autor sozialkritischer Romane war gewiss kein Spezialist für nachrichtendienstliche Ermittlungen im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Aber ihm schien die Hatz auf den jüdischen Hauptmann Dreyfus Anlass genug, als gleichsam kompetenzfreie Stimme Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Irgendwann werden auch bei uns die Freiheitsthemen gegenüber solchen der Sekurität wieder in ihr Recht treten. (Ronald Pohl, 11.4.2020)