Gangelt im Landkreis Heinsberg ist als Corona-Hotspot bekannt geworden.

Foto: EPA / Sascha Steinbach

Vielleicht ist es ja wirklich so, dass die Deutschen nicht mehr von Politikern, sondern von Virologen regiert werden – wie es in vielen Medien heißt. Am Donnerstag dieser Woche jedenfalls steht in der Staatskanzlei von Nordrhein-Westfalen, zwischen Deutschlandflagge und Landesfahne, hinter einem Rednerpult, Hendrik Streeck.

Der Direktor des Instituts für Virologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn ist der gefragteste Mann der Pressekonferenz – und nicht Regierungschef Armin Laschet (CDU). Der ist eher bloß für die Begrüßung und den Dank zuständig.

Der 42-jährige Streeck nämlich hat sein Institut in Bonn verlassen und sich am 30. März mit einem 80-köpfigen Team aus Ärzten, Wissenschaftern und Studierenden in den Landkreis Heinsberg, und dort wiederum in die Gemeinde Gangelt mit ihren 12.529 Einwohnern begeben.

Heinsberg & Gangelt, diese beiden Namen lösen in Deutschland ungefähr jene Reaktionen aus wie in Österreich die Erwähnung des Ortes Ischgl. Der westlichste Landkreis von Deutschland mit seinen 254.000 Einwohnern, unweit von Aachen und der niederländischen Grenze, ist als Corona-Hotspot bekannt geworden.

Nirgendwo sonst gab es so früh so viele Infektionen. Das "deutsche Wuhan" wird die Region genannt, seit sich das Virus, von einer Karnevalsveranstaltung ausgehend, rasend schnell verbreitete.

Das ist scheußlich für die Region, bietet aber auch eine Chance. Denn Streeck und sein Team führen dort nun die erste große Corona-Studie durch. "Covid-19 Case-Cluster-Study" lautet der Titel, und Streeck hat seine Aufgabe drei Tage vor seinem Auftritt in der Staatskanzlei so beschrieben: "Wir versuchen auf verschiedenen Ebenen zu verstehen, wie sich das Virus verhält."

Wissenschaft im Dilemma

Er sprach aber auch das Dilemma an, in dem er steckt: "Wissenschaft braucht Zeit und kann nicht getrieben werden. Ich sehe aber auch die Notwendigkeit, dass Daten schnell zur Verfügung stehen müssen."

Nicht nur Laschet, der die Studie in Auftrag gegeben hat, will Ergebnisse sehen. Von diesen hängt ab, wie die Politik weiter verfährt – ob sie Kontaktsperren lockert, Läden die Erlaubnis zur Wiedereröffnung erteilt und Schulen wieder in Betrieb nimmt.

Daher hat Streeck schon an diesem Donnerstag erste Daten mitgebracht, die Hoffnung machen sollen. Bei 15 Prozent der Untersuchten sei eine Infektion nachgewiesen worden. Diese hätten nun eine Immunität gegen das Coronavirus ausgebildet. Das bedeute eine "Verlangsamung der Ausbreitung". Zuvor war man von einer Immunitätsrate von fünf Prozent ausgegangen.

Gemessen an der Zahl der Gesamtinfizierten liegt die Sterblichkeit bei 0,37 Prozent, das ist niedriger als bisher angenommen. Zum Vergleich: Die Johns-Hopkins-Universität weist für Deutschland einen Wert von 1,98 Prozent aus, also einen fünfmal so hohen Wert. Zwar sei die Studie repräsentativ, aber nicht eins zu eins auf ganz Deutschland umzulegen.

Strenge Schutzauflagen

Man könne aber erkennen: Die strengen Schutzauflagen, die der Kreis Heinsberg rasch nach dem Auftreten der Infektionen eingeführt habe, um die Ausbreitung zu verhindern, haben gewirkt. Das ermögliche jetzt, nach der Quarantänisierung, in "Phase zwei" überzugehen, sagt Streeck. Die Politik kann über erste Lockerungen nachdenken, da die Menschen begriffen hätten, wie wichtig Hygiene und Abstand seien.

Prompt jedoch meldete sich Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité (und Vorgänger Streecks in Bonn), mit Kritik. "Ich kann daraus überhaupt nichts ableiten, das war alles so ein bisschen vage", sagte er über die Studie.

Er bezweifelt außerdem, dass Streeck tatsächlich mit den Antikörpertests zwischen Infektionen mit dem neuen Coronavirus und Erkärlungserregern, die ebenfalls zu den Coronaviren zählen, unterscheiden konnte. Zumindest fehle der Nachweis, es gebe überhaupt kein wissenschaftliches Papier. Die Charité will nächste Woche mit dem Robert-Koch-Institut eine Untersuchung starten.

Streeck widerspricht bei Zeit online, der Test könne sehr wohl zwischen einer Infektion mit Sars-CoV-2 und anderen Coronaviren unterscheiden. Angegriffen wird er auch vom Braunschweiger Infektionsepidemiologen Gérard Krause. Dieser sieht eine falsche Zählweise.

So seien für die Studie alle positiv getesteten Einzelpersonen erfasst worden, man dürfe aber nur eine pro Haushalt zählen, da in einem Haushalt das Infektionsrisiko höher sei. Diese Methodik will Streeck jetzt noch mal überdenken.

In den nächsten drei Wochen möchte er noch mehr Fragen klären: Wer hat sich wann angesteckt? Wo lauern die größten Gefahren? Wie häufig haben Kinder ihre Eltern oder Großeltern infiziert? Und vor allem möchte er wissen: "Wer hat sich nicht infiziert? Und warum nicht?" Streeck sagt: "Der Kreis Heinsberg bietet uns eine einmalige Chance, weil klar ist, wann das Virus hier angekommen ist."

Ein Infizierter im Männerballett

Das war am 15. Februar. In Gangelt fand an diesem Tag die "Kappensitzung" des Karnevalsvereins "Langbröker Dicke Flaa" statt. Für Unterhaltung sorgte auch ein Männerballet. Allerdings trug ein 47-jähriger Teilnehmer das Virus in sich, ohne es zu wissen.

Er war der Erste, bei dem es in Nordrhein-Westfalen – am 25. Februar – nachgewiesen wurde. Daraufhin wurden rund 1.000 Menschen im Landkreis in Quarantäne geschickt, am 26. Februar schlossen Schulen, zweieinhalb Wochen früher als im restlichen Deutschland.

Virologe Streeck hat mit seinen Leuten in einer (ohnehin geschlossenen) Schule von Gangelt Quartier bezogen und berichtet von herzlicher Aufnahme durch die Bevölkerung: "Uns wird Kuchen gebacken, wir bekommen Donuts von der Tankstelle."

Noch wichtiger ist, dass die Bürgerinnen und Bürger in Gangelt sehr an der Studie interessiert seien, sich bereitwillig testen lassen und Auskünfte geben. An 600 Haushalte wurde das Ersuchen der Forscher versandt, bisher nahmen rund 1.000 Einwohner aus 400 Haushalten teil.

Abstriche an Toiletten und Handys

"Wir sind von Tür zu Tür gezogen", sagt Streeck. Es werden Bluttests durchgeführt und Rachenabstriche genommen, zudem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr genau befragt: Mit wem saßen sie im Karneval zusammen? Mit wem haben sie sich in den Pausen unterhalten? Waren sie in den gleichen Tanzgruppen zusammen?

Die Gangelter wurden zudem gebeten, nicht zu putzen. Denn die Wissenschafter interessieren sich auch für WCs, Türklinken, Fernbedienungen und Smartphones.

Wie aber könnten nun die Lockerungen nach Ostern aussehen? "Wir können der Politik eine bessere Grundlage für ihre Entscheidung geben", sagt Streeck. Aber den konkreten Weg müsse diese dann vorgeben, weil die Politik "ja noch andere Erkenntnisse abseits der Wissenschaft zu berücksichtigen hat". Und er räumt auch ein: "Ich merke, dass ein Druck auf mir lastet."

Bislang hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel keine Lockerungen – wie in Österreich – in Aussicht gestellt. Die Entscheidung darüber soll am Mittwoch nach Ostern fallen. (Birgit Baumann, 10.4.2020)