Gastronomie und Tourismus liegen am Boden. Das Leben spielt sich hinter verschlossenen Türen ab.

Illustration: aus dem wunderbaren Buch "Die Hieroglyphen von heute" von Hans-Rudolf Lutz, Verlag Hans-Rudolf Lutz, Zürich
Illustration: aus dem wunderbaren Buch "Die Hieroglyphen von heute" von Hans-Rudolf Lutz, Verlag Hans-Rudolf Lutz, Zürich

Ludwig Wüst setzte sich für gewöhnlich morgens um sechs an den Schreibtisch, um zu schreiben. Er arbeitete Stunden in seinem Atelier, ehe er seine Bücher studierte. Abends zog es ihn ins Filmmuseum oder ins Theater.

Seit mehr als 30 Jahren kreist das Leben des Autors, Regisseurs, Schauspielers und Filmemachers um die Kunst. Zwölf Filme hat er gedreht, dutzende Theaterproduktionen und Arbeiten aus Holz realisiert. Doch seit dem Ausbruch des Coronavirus pflanzt er Bäume. Wurzel um Wurzel schneidet er an, auf dass sie sich auf einer Obstplantage in Poysdorf mit Erdreich verbinden mögen.

Regale schlichten statt Kebab verkaufen

Mustafa Ay ist Gastronom. Als Geschäftsführer des Kebab-Lokals Mangalet verkaufte er in Wien Döner und Falafel – die wohl besten der Stadt, wie er versichert. Seit Covid-19 ist alles anders. Das kleine Restaurant ist zu, der Job weg. Ay schlichtet nun in einer Filiale eines Supermarktes Lebensmittel.

Selina Bravin studiert Molekularwissenschaften. Später will sie in die Forschung, um Krankheiten zu bekämpfen. Derzeit packt die 20-Jährige in Eferding für den Biohof Achleitner Obst und Gemüse in Kistln. Zehn Stunden währt ihr Arbeitstag. Angesichts rasant gestiegener Bestellungen ist der Betrieb froh über helfende Hände.

Systemrelevante Bereiche

Covid-19 stellt das Leben vieler Österreicher auf den Kopf. Selbstständigen brachen quer durch alle Branchen die Aufträge weg. Gastronomie und Tourismus liegen am Boden. Händler und Produzenten verfielen in Schockstarre, Schulen und Universitäten sind verwaist. Das Leben spielt sich hinter verschlossenen Türen ab.

Allein systemrelevante Bereiche hielten in den vergangenen drei Wochen die Stellung. Die Landwirtschaft etwa, die aufgrund fehlender Erntehelfer aus dem Ausland nun um mehr Arbeitskräfte aus Österreich kämpft. Oder Lebensmittelhändler, deren Kapazitäten erst Hamsterkäufe, dann explodierende Onlinebestellungen ausreizten. Viele waren personell am Limit.

Regisseur und Filmemacher Ludwig Wüst hilft unentgeltlich auf Apfelplantagen aus. "Körperlich anstrengend, zugleich aber schöpferisch und meditativ."
Foto: Lena Prehal

Wüst hilft mehrere Tage in der Woche unentgeltlich beim Setzen tausender Apfelbäume. Es fordere ihn körperlich heraus, sei aber zugleich schöpferisch und meditativ, meint er und erzählt von seiner Kindheit auf dem Bauernhof zwischen Waldarbeit und Schweineschlachten.

Landwirt Elmar Fischer brauche im Frühling auf seiner Bioplantage jede Arbeitskraft. Ihm selbst laufe die Kunst nicht davon. "Ich bin Langstreckenläufer. Meine Ideen werden wegen Corona nicht schlechter."

Keine Alternative

Ay nennt es Glück, dass er für das gleiche Gehalt vom Kebab-Lokal in eine Filiale der Handelskette Etsan wechseln konnte. Er könne es sich nicht leisten, arbeitslos auf das Ende der Krise zu hoffen. "Ich habe Familie und Kinder, ich zahle Miete, habe Fixkosten. Ich darf mein Einkommen nicht verlieren."

Abends wirft er sein Gewand in die Wäsche und duscht, ehe er seine Kinder begrüßt. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen im Supermarkt und steter Desinfektion hat er Sorge, die Familie gesundheitlich zu gefährden.

Bravin will die Zeit, bis die Universität wieder öffnet, für etwas Sinnvolles nützen, sagt sie. Arbeit in der Landwirtschaft ist ihr nicht fremd. Nebenjobs führten sie immer wieder hinaus auf die Felder. "Ich habe großen Respekt vor Erntehelfern und Saisonarbeitern."

Es ist ein buntes Mosaik an Geschichten, die ein Blick in die von Corona gezeichneten Arbeitswelten enthüllt. Diese spielen in den unterschiedlichsten Berufen und gesellschaftlichen Schichten. Sie handeln von Angst um die finanzielle Existenz, vom Willen, trotz Widrigkeiten das Leben selbst in die Hand zu nehmen – und von der Hoffnung, aus der Krise auch etwas Gutes wachsen zu lassen.

Lust auf Regionales

Ibrahim Tastekin steht an der Grenze zu einem neuen Lebensabschnitt. Der Wiener war arbeitslos. Nun holt er die Matura nach, will Informatik studieren und hilft regelmäßig bei Adamah aus. Der Biobetrieb in Glinzendorf erlebt seit Covid-19 bei den Hauszustellungen starken Zulauf an Kunden. Tastekin füllt für diese Kisten mit regionalen Lebensmitteln.

Die Arbeit gehe ihm leicht von der Hand, und er entlaste damit finanziell ein wenig den Haushalt seiner Mutter, sagt er. Corona fühle sich für ihn fast surreal an. Dennoch habe er Bedenken, dass viele die Gefahr unterschätzten.

Vor ein paar Jahren noch sei er völlig unbekümmert gewesen, auch was seine berufliche Zukunft betrifft. "Aber dann bist du 18 oder 19 und beißt dir in den Hintern, weil du merkst, dass die Zeit doch schneller vergeht, als du gedacht hast."

Eine seiner Arbeitskolleginnen bei Adamah ist Dora Takacs. Bis vor drei Wochen arbeitete sie als Regieassistentin für internationale Filmproduktionen in Budapest, ein Hotspot der Branche. Von einem Tag auf den nächsten wurden alle Drehs abgesagt. Innerhalb einer Woche waren alle Projekte gestrichen, die Schauspieler flogen heim, resümiert sie. Da Corona die USA zeitversetzt trifft, rechnet sie mit Stillstand bis in den Herbst.

Bücken und Heben

Die Eltern der gebürtigen Ungarin, die des Berufes wegen mehrere Jahre in Los Angeles lebte, wohnen in Gänserndorf. Takacs kehrte zu ihnen zurück. Sie wolle sich derweil hier nützlich machen, im Biohandel wie beim Roten Kreuz, sagt sie. Und sie brauche ein Einkommen, um sich finanziell über Wasser zu halten.

Genau elf Stunden dauert eine Schicht bei Adamah, gearbeitet wird auch nachts. Bücken und Heben gehören dazu. Takacs empfindet beides nicht als belastend. "Vom Film bin ich 14-Stunden-Tage gewöhnt, ich laufe dabei bis zu 15 Kilometer herum."

Hamsterkäufe und explodierende Onlinebestellungen brachten Supermärkte personell an ihre Grenzen.
Foto: APA

Wochenlang hinter einem Computer sitzen zu müssen, hält auch Cameron Menschhon nicht aus. "Selbst wenn die ganze Welt gerade die Stopptaste gedrückt hat." Die Oberösterreicherin reiste monatelang durch Island, baute dort mit Freunden Häuser. Jetzt studiert sie Agrarwissenschaften und will in Zukunft neue Obst- und Gemüsesorten züchten.

Sie arbeite gern mit ihren Händen, sagt Menschhon. In Eferding unterstützt sie gemeinsam mit der Molekularwissenschafterin Bravin und einer angehenden jungen Hebamme das Unternehmen Achleitner. Zwei Monate will sie hierbleiben, wenn nötig auch länger.

Paprikalogistik statt Events

Benjamin Kandelsdorfer hat Corona von Events und Festivals in die Paprikalogistik verschlagen. Eigentlich würde sich der Burgenländer ja jetzt in der Gastronomie sein Studium als Landschaftsplaner finanzieren. Doch die Musik spielt in Zeiten der Krise anderswo.

Kandelsdorfer, der als Tutor das Veredeln von Bäumen lehrt und als Imker Honig erzeugt, will seinen Eltern nicht auf der Tasche liegen, sagt er. Rewe hatte keinen Job für ihn, die LGV Sonnengemüse stellte ihn sofort ein. Nun sortiert er im Seewinkel Paprika in Kisten für Spar, Billa und Hofer. "Ich kenne viele der Bauern, die ihn produzieren." An Regionalmanagement, auf das er sich an der Uni spezialisiert hat, fehle es also auch hier nicht.

Kisten am laufenden Band: Konsumenten lassen sich Obst und Gemüse von Landwirten wie Adamah und Achleitner mehr denn je nach Hause liefern.
Foto: Imago

Philipp Rauchenschwandtner verkaufte bis März in seinem Shisha-Shop Babo in Freilassing Wasserpfeifen. Seit April bäckt er in Österreich Brotteiglinge auf. Das Geschäft musste wie alle anderen Händler schließen, woraufhin der Unternehmer bei Lidl anheuerte. Dort betreut er die Backstationen, kurvt mit Hubwagen durch die Filiale und füllt Regale auf.

Rauchenschwandtner trägt eine Maske, alle zehn Minuten wechselt er die Latexhandschuhe. "Was soll ich mich arbeitslos melden, wenn ich gesund bin? Ich hänge nicht gern daheim herum." Auch habe der Staat aktuell wohl Besseres zu tun, als ihn zu finanzieren.

"Wie aus einer anderen Welt"

Schönreden will die Krise keiner. Viele Umsteiger kommen aus Unternehmerfamilien, die Corona wirtschaftlich hart und nachhaltig trifft. Andere berichten von kranken Bekannten, von Angehörigen und Freunden, die ihre Jobs verloren ohne Aussicht auf rasche Wiedereinstellung, und von Kindern und Großeltern, die aus Angst vor Ansteckung seit Wochen die Wohnung nicht verlassen dürfen.

Dennoch sprechen viele davon, seither kleine Dinge zu schätzen, Zeit mit der Familie intensiver zu verbringen, Tempo aus ihrem Leben zu nehmen. "Wir waren daran gewöhnt, jederzeit fast grenzenlos reisen zu können, Freunde zu treffen, Leute zu umarmen, sagt Takacs. Sie werde diese Freiheit in Zukunft nicht mehr als selbstverständlich erachten. "Es fühlt sich an wie aus einer anderen Welt." (Verena Kainrath, 11.4.2020)