Der Opernball am 20. Februar war einer der Orte, an denen sich das Virus leicht hätte ausbreiten können. Doch eine Absage wäre politisch unmöglich gewesen.

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Manchmal möchte man die Uhr zurückdrehen zu jenem Moment, an dem eine Katastrophe noch hätte abgewendet werden können. Im Fall der Corona-Pandemie ist der Tag, von dem an die westliche Welt gerne fast alles anders hätte machen wollen, recht klar: Es ist der 30. Jänner, als die Weltgesundheitsorganisation WHO den internationalen Gesundheitsnotstand ausrief.

An diesem Tag gab es erst eine Handvoll bestätigter Infektionen außerhalb von China. Aber die wesentlichen Eigenschaften von Sars-CoV-2 waren angesichts der explosiven Ausbreitung in der chinesischen Provinz Hubei seit Jahresanfang bekannt.

Man wusste, dass das Virus hochansteckend ist, dass das menschliche Immunsystem davor nicht schützen kann, weil es den Erreger nicht kennt, dass viele Infizierte überhaupt keine Symptome zeigen und daher unerkannt bleiben und dass das Virus bei einer beträchtlichen Anzahl von Fällen zu schweren Erkrankungen und sogar zum Tod führt.

Und da bereits Fälle in 20 Staaten außerhalb Chinas registriert worden waren – darunter eine Handvoll in den USA und in Europa –, konnte man nicht mehr darauf zählen, dass der Erreger in den Grenzen der Volksrepublik verweilen wird.

Man fühlte sich sicher

Doch mit Ausnahme einiger Staaten in Asien wie Südkorea, Taiwan oder Singapur gab es weltweit kaum Reaktionen. Man fühlte sich sicher und wartete die weitere Entwicklung ab. Selbst als die ersten Fälle bestätigt wurden, wiegelten Politiker, Gesundheitsbehörden und sogar Virologen ab.

So verging ein ganzer Monat, in dem Europa und die USA Vorbereitungen hätten treffen und Maßnahmen hätten setzen können – und dies nicht getan haben. Als Anfang März durch den dramatischen Anstieg von Corona-Toten in Norditalien endlich die Gefahr erkannt wurde, war es bereits sehr spät.

Unbemerkt hatte sich Sars-CoV-2 auf alle Kontinente ausgebreitet; bei jedem Anlass, bei dem Menschen zusammenkamen – ob bei Partys, Familienfesten, Faschingsumzügen, Après-Ski-Gaudi, Konferenzen, Begräbnissen oder einfach nur beim Kaffeetratsch. Stets wuchs die Zahl der Infizierten. Der Anstieg der bestätigten Fälle von 12.000 Ende Jänner auf knapp 90.000 einen Monat später verbarg eine viel höhere Dunkelziffer.

Erfahrungen aus der Sars-Epidemie 2003

Viel ist derzeit vom verfehlten Krisenmanagement in den ersten Märzwochen die Rede, ob in der Lombardei, in Tirol, im Iran oder im Weißen Haus, wo Donald Trump überhaupt erst vor kurzem das Ausmaß der Bedrohung begriff.

Aber die entscheidende Zeit, in der das Virus ohne drastische Maßnahmen noch leicht hätte gestoppt werden können oder die Staaten sich zumindest ausreichend mit Testkits, Schutzausrüstungen und Beatmungsgeräten hätten ausrüsten können, war der Februar. Es war der verlorene Monat der Corona-Tragödie.

Geschehen ist dies nur in einigen ostasiatischen Staaten, die 2003 die Sars-Epidemie erlebt hatten. "Singapur und Südkorea haben sich 17 Jahre vorbereiten können und wussten am ersten Tag, was zu geschehen hat", sagt der Grazer Public-Health-Spezialist Martin Sprenger.

Gefahr unterschätzt

Selbst Experten in Europa nahmen die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, damals noch kaum wahr. Weil Sars sich vor allem in Asien ausgebreitet hatte, sah man auch Covid-19 als asiatisches Problem an und erkannte nicht, dass dieses Virus anders ist.

Auch er habe die Gefahr damals unterschätzt, vor allem für die gesamte ältere Generation, räumt Sprenger ein. "Ich habe es nicht kommen sehen, dass dieses Virus es so auf die Pflegegeldbezieher abgesehen hat." Auch zahlreiche Virologen gaben sich gelassen und setzten die Gefahr des Coronavirus mit der einer Grippe gleich.

Sprenger verweist auch auf die Risikoabschätzungen des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC), das am 26. Jänner den Mitgliedsstaaten zwar empfahl, Verdachtsfälle rasch zu testen und zu melden, aber vor allem die vielen offenen Fragen betonte. Von großer Sorge war in dem Dokument nichts zu erkennen.

Warnung in Washington

Eine dringlichere Warnung kam von Trump-Berater Peter Navarro, einem Ökonomen, der den Handelskrieg mit China angetrieben hat. In einer Aktennotiz warnte er Ende Jänner vor jener tragischen Entwicklung, die die USA nun erfasst hat.

"Der fehlende Schutz erhöht das Risiko, dass sich das Coronavirus in eine volle Pandemie entwickelt, die das Leben von Millionen Amerikanern bedroht", schrieb er an das Team des Präsidenten. Trump sagt, er habe den Bericht nie zu Gesicht bekommen.

Auch in Europa wurden die Warnsignale ignoriert. In Rom wurden am 28. Jänner zwei chinesische Touristen positiv getestet, in Tirol wurde zwei Tage später gemeldet, dass sich eine infizierte deutsche Touristin auf einer Hütte im Kühtai aufgehalten hatte.

Der Tiroler Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber, der später den Ausbruch in Ischgl herunterspielte, erklärte damals: "Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung." Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung sei gering.

Kaum Expertise

Der Allgemeinmediziner und Public-Health-Forscher Florian Stigler sieht hinter dieser Fehleinschätzung einen Mangel an Daten und Expertenwissen. "Jetzt fällt uns auf den Kopf, dass wir jahrelang die Public-Health-Kapazitäten zu wenig finanziert und ausgebaut haben", sagt er.

Auch er verweist auf das Beispiel Singapur. "Dort sind 30 Wissenschafter angestellt, die sich mit Pandemien beschäftigen, die meisten von ihnen Professoren." In Österreich geb es kaum Expertise.

Aber wäre so viel anders gewesen, wenn wirklich die Experten Anfang Februar Alarm geschrien und die Politik zum raschen Handeln aufgefordert hätten? Hätte die Regierung mitten in den Semesterferien die Skigebiete oder zumindest alle Après-Ski-Bars schließen können, die vielen Faschingsumzüge im Land untersagen oder am 20. Februar den Opernball absagen können?

Massiver Widerstand

Selbst wenn sich dort niemand angesteckt hat, was gar nicht erwiesen ist: Für eine vorausschauende Präventionspolitik wären all diese Schritte notwendig gewesen, politisch aber unvorstellbar.

Wie Kanzler Sebastian Kurz immer wieder durchblicken lässt, ist er noch in der zweiten Märzwoche mit seiner Forderung nach harten Maßnahmen auf massiven Widerstand nicht nur bei Tiroler Touristikern, sondern auch bei fast allen Landespolitikern und bei den Grünen gestoßen.

In einer Demokratie müssen politische Entscheidungen von der öffentlichen Meinung mitgetragen werden, und die ist erst bereit dazu, wenn die Gefahr schon präsent ist. Verhaltensökonomen sprechen hier von einer Verfügbarkeitsheuristik: Flimmern Schreckensbilder über den Bildschirm, dann wird die Bedrohung ernst genommen oder sogar überschätzt, wie man etwa bei Terroranschlägen wie die vom 11. September 2001 oder ab dem Jahr 2015 gesehen hat.

Danach waren Amerikaner und Europäer zu massiven Eingriffen in ihre Rechte bereit. Wird man aber nur mit trockenen Prognosen konfrontiert, dann reagieren die meisten mit dem Satz "Das wird mir nicht passieren".

Erst durch die Lombardei

Deshalb lösten erst die Bilder aus den überlasteten Spitälern in der Lombardei Anfang März den Meinungsumschwung der Politik und der Bevölkerung aus. Die früheren Bilder aus Wuhan waren in Europa nicht mir der eigenen Lage in Verbindung gebracht worden. "Wenn man die Bedrohung nicht greifen kann, sind Eingriffe in gewohnte Freiräume schwer durchzusetzen", sagt der Politikwissenschafter Anton Pelinka.

Darin eine Schwäche der Demokratie zu sehen sei allerdings falsch, betont Pelinka und verweist auf das Beispiel Südkoreas, das demokratisch sei und rasch reagiert habe. "Demokratien können durch den Pluralismus auf drohende Katastrophen oft rascher reagieren als Diktaturen, die Fakten oft nicht zur Kenntnis nehmen wollen."

Das lasse sich auch jetzt beim Umgang mit dem Coronavirus sehen. Wichtiger als die Staatsform seien "die Erfahrungen, die eine gewisse kulturelle Bereitschaft erzeugen", sagt Pelinka.

Das gibt Hoffnung, Virologen gehen zwar davon aus, dass es nach dem erfolgreichen Zurückdrängen des Virus neue Wellen von Corona-Infektionen geben wird wie derzeit in Singapur. Aber dann werden wir alle vorbereitet sein. Einen weiteren verlorenen Monat sollte es nicht mehr geben. (Eric Frey, 13.4.2020)