Statt Parlamente zu entmachten, müssen wir sie digital ermächtigen, fordert Helfried Carl vom Innovation in Politics Institute im Gastkommentar. In einem weiteren Gastkommentar warnt der Politikwissenschafter Jan-Werner Müller vor viralen Ermächtigungsgesetzen.

Karikatur: Michael Murschetz

Im Netz kursiert derzeit ein mäßig guter Unternehmensberaterwitz: Wer hat endlich die digitale Transformation Ihres Unternehmens geschafft? Die Geschäftsführung? Nein. Die IT-Abteilung? Nein, es war Covid-19!

Eine andere Wirkung der Corona-Krise sehen wir, wenn nicht nur in Ungarn und Polen die Notlage ausgenutzt wird, um die Demokratie zu untergraben. Besorgniserregend ist, wie verhalten die Proteste in Wien und Brüssel dagegen ausfallen, wenn es sie überhaupt gibt. Es scheint vielen noch immer nicht klar zu sein, dass die gefährlichste Bedrohung für die Identität Europas und die Lebensqualität seiner Bevölkerung von den äußeren und inneren Feinden der Demokratie ausgeht. Ohne Demokratie und Freiheitsrechte ist Europa nur eine geografische Überschrift.

Disruptive Krise

Der schlechte Witz birgt aber auch eine wichtige Erkenntnis, denn es ist tatsächlich so, dass die durch die Krise erzwungene Umstellung auf Homeoffice in vielen Unternehmen völlig neue Kommunikations- und Organisationsformen hervorbringt. Diese waren in unserem digitalen Zeitalter schon länger möglich, aber erst jetzt werden diese Potenziale massenhaft gehoben. Dass dies für alle Beteiligten nicht immer nur einfach ist, schon gar nicht wenn viele Eltern gleichzeitig als Aushilfslehrerinnen und Aushilfslehrer für ihre Kinder agieren müssen, ist klar.

Es stellt sich jedenfalls die Frage, warum wir jetzt nicht darangehen, diese Möglichkeiten auch im Bereich der demokratischen Willensbildung auszuschöpfen. Das muss wohl zuallererst damit beginnen, unsere Wahlen und unsere Parlamente krisenfest zu machen.

Chance E-Voting

Es ist einleuchtend, dass die physische Präsenz der Abgeordneten im Plenarsaal und ihre hoffentlich auf vernünftiger Rede und Gegenrede fußenden Debatten mit anschließenden Abstimmungen die Norm sein sollten. Aber dieses Prozedere muss im 21. Jahrhundert für den Krisenfall eine digitale Ergänzung finden. Anstatt, wie Viktor Orbán es tut, das Parlament zu entmachten, müsste es digital ermächtigt werden, seine Handlungsfähigkeit auch dann zu bewahren, wenn es gerade nicht "zusammentreten" kann. Artikel 25 (2) der Bundesverfassung erlaubt es dem Bundespräsidenten, auf Antrag der Bundesregierung den Nationalrat in einen anderen Ort des Bundesgebietes als Wien einzuberufen. In Zukunft sollte ihm dafür in Krisenzeiten auch der digitale Raum zur Verfügung stehen.

Dasselbe gilt für die wichtigste Grundlage unserer Demokratien, nämlich die ungehinderte Abhaltung allgemeiner und freier Wahlen. Es ist bereits vieles gegen E-Voting vorgebracht worden. Die Sorge, dass es technische Angriffe auf die Stimmabgabe oder Stimmauszählung geben könnte, aber auch dass der Grundsatz der persönlichen Stimmabgabe gefährdet wäre, gehört zu den wichtigsten Argumenten dagegen. Befürworter des E-Votings sind überzeugt, dass es Lösungen für diese Herausforderungen gibt. In Estland haben bei den letzten Parlamentswahlen 43 Prozent der teilnehmenden Stimmberechtigten ihr Wahlrecht über das Internet ausgeübt.

Eines sollte aber mehrheitsfähig sein: Wir können es längerfristig nicht akzeptieren, dass wir unsere analogen Wahlgänge wegen eines Virus nicht durchführen können. In Vorarlberg und der Steiermark ist das schon geschehen, und wir wissen noch nicht, ob dies auch in Wien der Fall sein wird.

Fairer Online-Wahlkampf

Natürlich stellt uns die Digitalisierung vieler bisher analoger demokratischer Prozesse vor große Herausforderungen. So ist es etwa nicht klar, wie ein Wahlkampf unter diesen Bedingungen aussehen soll. In den USA demonstriert Joe Bidens schwierige Rolle als demokratischer Kandidat im Corona-Bunker, dass Social Media und andere virtuelle Kanäle kein gleichwertiger Ersatz für einen analogen Wahlkampf sind. Das bedeutet selbst im technologieaffinen Nordamerika eine echte Behinderung der Opposition.

Auch hier wäre für die Zukunft mehr Kreativität gefragt: Die Politik muss sich auch auf dem digitalen Marktplatz selbst regulieren. Wenn wir die Demokratie mit Social Media weiterentwickeln wollen, dann geht es um mehr als um Facebook-Werbung – oder schlimmer, Manipulation durch Cambridge Analytica. Es wäre hoch an der Zeit, dass sich die parlamentarischen Parteien überlegen, wie ein fairer Wahlkampf im Internet aussehen könnte. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, eine digitale Agora ist nötig und gestaltbar!

Notwendige Debatte

Und es gibt auch neue Formen der analogen demokratischen Willensbildungen, die sich digital ergänzen ließen. Die mittlerweile zahlreichen und überwiegend positiven Erfahrungen mit per Los bestimmten Bürgerinnen- und Bürgerversammlungen, die über wichtige gesellschaftliche Grundsatzfragen befinden und der Legislative wertvolle Anstöße geben, können ebenso digital aufgesetzt oder weiterentwickelt werden.

Ja, die Umsetzung all dieser Vorschläge ist mit Unwägbarkeiten verbunden, und erst in der praktischen Anwendung werden wir herausfinden, was funktioniert und was wir besser bleibenlassen. Bei unserer täglichen Arbeit im Homeoffice stecken wir derzeit mitten im Experiment. Die Arbeitswelt wird nach der Corona-Krise jedenfalls eine andere sein. Wir müssen uns aber auch der Realität stellen, dass die wichtigste politische Errungenschaft Österreichs im 20. Jahrhundert, die demokratische Organisation der Willensbildung, in das Internetzeitalter überführt werden muss. Wir sollten die Diskussion darüber jetzt intensiv führen – analog und digital! (Helfried Carl, 11.4.2020)