Das Jahr 2020 sollte das Jahr der Ozeane werden. Zahlreiche internationale Konferenzen hätten ein Momentum schaffen sollen, um den Schutz der Meere in rechtlich bindende zwischenstaatliche Verträge zu gießen. Bis auf weiteres wurden die Verhandlungen auf unbestimmte Zeit verschoben. Auch der Abschluss eines Abkommens zum Erhalt mariner Biodiversität – von dem ich im Jänner berichtet hatte – fiel aus. Die Verhandlungsräume der Vereinten Nationen in New York sind leer, und viele Mitgliedsstaaten haben ihre Vertretungen auf Notbetrieb umgestellt oder ganz geschlossen. Während viele wissenschaftliche Konferenzen in virtuelle Räume verlagert werden und bereits die Vorzüge einer solchen Praxis für die Zukunft akademischen Austauschs diskutiert werden, lässt sich die Praxis internationaler Diplomatie nicht von heute auf morgen ins Virtuelle verlagern. Warum eigentlich nicht?

Neuordnung der Meere

Der Schutz der marinen Biodiversität auf Hoher See bedarf eines neuen Vertrages, um sie für zukünftige Generationen vor Ausbeutung und Ausrottung zu bewahren. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, das 1982 geschlossen wurde, umfasst Regeln für alle Nutzungsformen der Meere, erwähnt jedoch auch aufgrund des damaligen Wissensstandes die marine Biodiversität nicht. Was seit 2018 im Rahmen von drei zweiwöchigen Verhandlungsrunden in New York nachgeholt wurde und Ende März in eine vierte Sitzung hätte münden sollen, hat allerdings nur mehr wenig mit der damaligen diplomatischen Praxis zu tun, die das Seerechtsabkommen ins Leben gerufen hat. Dies zeigt, wie sehr sich diplomatische Praxis in den letzten Dekaden verändert hat und in Zukunft verändern wird.

Die Verhandlungen über das Seerechtsabkommen umfassen Bemühungen einer Neuordnung der Meere seit den 1950er-Jahren und begannen im Jahr 1974 auf Grundlage eines mehrbändigen Berichts, der allen Delegierten buchartig vorlag. Einen Textentwurf als Grundlage für die Verhandlungen, wie oft üblich, gab es nicht. Durch den Verzicht auf einen Entwurf sollten Konflikte zwischen westlichen Industriestaaten, sozialistischen Staaten und Entwicklungsländern sowie zwischen Küstenstaaten, Inselstaaten und Binnenstaaten zu Beginn vermieden werden. Es wurden Verhandlungsgruppen zu Teilaspekten eingerichtet, etwa zum Meeresbodenregime, dem Meeresschutz, der Meeresforschung und der Streitbeilegung, deren Ergebnisse kontinuierlich in alle sechs UN-Sprachen übersetzt wurden.

Erst im fünften Verhandlungsjahr wurden die erzielten Einigungen zusammengefasst, sodass ab 1977 ein Text im Umlauf war, der Basis der Verhandlungen wurde. Durch dieses langwierige Vorgehen erzielte man bis 1981 einen Entwurf, dessen Inhalt mehrheitlich auf Konsens beruhte und am 30. April 1982 nach 14 Verhandlungsjahren zum Abschluss des Abkommens geführt hat. Dieser enthielt jedoch Bestimmungen, auf die viele Entwicklungsstaaten pochten, die jedoch auch abgelehnt wurden, weswegen die USA bis heute das Abkommen nicht unterschrieben haben: Die Anerkennung mineralischer Ressourcen am Meeresboden der Hohen See, der sogenannten "area", als allgemeines Erbe der Menschheit; ein Thema, das noch heute die Verhandlungen zum Meeresschutz tangiert.

23. Mai 1977 – Eröffnung der Sechsten Sitzung der Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, Sitz der Vereinten Nationen, New York: Die Teilnehmer halten eine Schweigeminute ein.
Foto: Material obtained on 14.04.2020 from the website of the United Nations Audiovisual Library of International Law, located at https://legal.un.org/avl/ha/uncls/uncls.html

Corona verändert die Verhandlungen

In zeitlich und räumlich verdichteter Form finden noch heute Verhandlungen auf der Basis von Texten statt, jedoch in einem hochbeschleunigten Prozess. Die physischen Verhandlungsräume, in denen Regierungsvertreter alphabetisch angeordnet am Verhandlungstisch sitzen, gibt es noch immer, jedoch durchdringen virtuelle Praktiken und Räume die traditionellen Verhandlungsverläufe. Viele Verhandelnde sitzen vor ihren Tablets und Laptops, auf denen alle Texte, Hintergrundinformationen und Statements abgespeichert und in allen Sprachen rasch abrufbar und veränderbar sind. Die Kommunikation zwischen Verhandlern und den Ministerien zu Hause bedarf keiner Telegramme mehr, und wenn eine Rückmeldung einen Tag auf sich warten lässt, so ist das lange. Über sozialen Medien wird oft in Echtzeit über die Verhandlungsdynamik informiert, die so auch für jene, die nicht teilnehmen, virtuell zugreifbar ist.

Die Durchdringung von Diplomatie mit virtueller Kommunikation hat sie nicht nur beschleunigt, sie hat sie in gewisser Weise auch demokratisiert. Am augenscheinlichsten ist das bei den großen Klimaverhandlungen, deren physischer und virtueller Raum seit zwei Dekaden massiv expandiert und mittlerweile einer Massenveranstaltung gleicht, in der nicht mehr ausschließlich Diplomaten Maßnahmen gegen das sich verändernde Klima aushandeln, sondern ganze Austragungsorte zum Schauplatz politischen Ringens um den Umweltschutz mutieren. Die formalen Entscheidungsprozesse scheinen dabei in den Hintergrund zu treten. Und sollte sich doch einer oder eine der zahlreichen Beobachter in den Verhandlungsraum verirren, bleibt er oder sie oft mit dem Gefühl zurück, dass das Ganze doch viel weniger spektakulär sei als angenommen. An den verwunderten Gesichtern meiner Studierenden lese ich oft ab, dass es doch nicht sein könne, dass Staaten zwei Wochen brauchen, um sich auf einzelne Worte in einem Text zu einigen, der als Entwurf ohnehin schon seit Wochen im Internet zirkuliert.

Das Ringen um Begrifflichkeiten und Terminologie durch legitimierte Staatenvertreter in einem klar strukturieren Raum ist aber – so könnte man sagen – das Kernstück der Diplomatie. Ein fertiger Vertragstext ist in Worte gegossene Ordnung und der Konflikt um einzelne Formulierungen ein symbolischer Kampf um Problemdeutungshoheit zwischen konkurrierenden Auffassungen der Realität sowie der legitimen Verteilung von Recht und Ressourcen. Im Bourdieu'schen Sinne könnte man internationale Verhandlungsräume als soziales Feld bezeichnen, also als Handlungsebene eines sozialen Raums, in dem Akteure mit unterschiedlichem Kapital ausgestattet um eine Verbesserung ihrer Position oder – aus idealistischer Sicht – eine Verbesserung der Welt ringen.

Der Meeresschutz darf in Krisenzeiten nicht unbeachtet bleiben.
Foto: AFP PHOTO / JAMES COOK UNIVERSITY

In der Aushandlung des Seerechtsabkommens – und nicht nur dort – fühlten sich viele Entwicklungsstaaten über den Tisch gezogen. Sie hatten den Eindruck, an einem Prozess, der Großmächte wie die USA, Europa und die Sowjetunion in der Nutzung der Meere weiter bevorteilte, nicht hinreichend beteiligt gewesen zu sein. Diese gilt nun als Ansporn, das Prinzip "Allgemeines Erbe der Menschheit" in das neue Meeresschutzabkommen zur gerechteren Verteilung ökonomischer Gewinne an marinen genetischen Ressourcen hinüberzuretten. Die Konflikte, die wiederum um das Prinzip entbrannt sind, sind symbolische Kämpfe um die Aneignung und den Schutz der Meere, die aufgrund der aktuellen Lage auf unbestimmte Zeit vertagt wurden, aber doch weiter existieren.

Diplomatie must go on

Die Corona-Pandemie hat nicht nur unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben erschüttert; sie rüttelt auch an der Praxis der Diplomatie und den Grundfesten politischer Entscheidungsfindung. Während im Rahmen der EU versucht wird, das Momentum für den Meeresschutz durch virtuelle Treffen aufrechtzuerhalten, bleibt die Frage nach der Zukunft der Verhandlungen offen. Auch wenn virtuelle Praktiken und Räume die diplomatische Praxis der letzten Dekade massiv verändert haben und neue Entwicklungspfade für die Diplomatie aufzuzeigen: An den Grundfesten des Repräsentationsprinzips und der Abstimmungspraxis haben diese Entwicklungen nichts verändert. Wahrscheinlicher als ein Weiterführen der Diplomatie mit virtuellen Mitteln ist die Gefahr eines neuen Minimalismus. Dieser würde nicht nur die Errungenschaft einer Demokratisierung internationaler Verhandlungen, die für die Politisierung des Umweltschutzes so wichtig war, neutralisieren, sondern viele Akteure des globalen Südens und ohnehin schon marginalisierte Gruppen wiederum von dem Prozess entfernen. (Alice Vadrot, 15.4.2020)