Jetzt bloß nicht den Kopf verlieren! Das Kunstwerk "Untitled #41" von Weronika Gesicka, gezeigt in der Ausstellung "Family Matters" im Wiener Dommuseum.

Weronika Gesicka / Jednostka Gallery

Zynisch betrachtet hatten jene, denen vor jeder österlichen Familienzusammenkunft graut, diesmal die perfekte Ausrede. Die verordnete "soziale Distanz", die eigentlich physische Distanz meint, lässt sich von denjenigen gut aushalten, denen die schrecklich nette Familie in ihrer um Großeltern, Tanten, Cousins, Nichten oder gar Nachbarn (!) erweiterten Form nichts als Beklemmung beschert.

Und tatsächlich genügt ja schon ein Blick in die Literaturgeschichte, um bei der Frage nach der vielgepriesenen "Keimzelle der Gesellschaft" stutzig zu werden: Thomas Manns Buddenbrooks, Dostojewskis Brüder Karamasow oder Tolstois Anna Karenina erzählen vielmehr vom Horror, der den familiären Strukturen innewohnt. Das von Psychologen geprägte Anna-Karenina-Prinzip etwa besagt, dass Glück nur jene Familien finden, in denen mehrere Faktoren wie Liebe, Sex, Religion oder Finanzen stimmen. Weiters beschreibt es, wie schon ein einziger Negativfaktor das gesamte Konstrukt zum Kippen bringen kann.

Sozialer Rollenwechsel

Mit Dingen, die von außen auf Familien einbrechen, wie Krieg oder eben die Corona-Krise, verhält es sich komplexer: Auf der Negativseite steht aktuell ganz deutlich die Zunahme von häuslicher Gewalt, die sich durch die künstliche Störung des Nähe-Distanz-Verhältnisses in der auf sich selbst zurückgeworfenen Kleinfamilie (auch Kernfamilie) manifestiert. Psychologen raten daher gerade jetzt, das Rückzugsbedürfnis jedes einzelnen Familienmitglieds zu respektieren und kühlen Kopf zu bewahren, wenn einmal jemand wortlos die Tür hinter sich zuziehen sollte.

Auf der Positivseite findet sich hingegen ein Aspekt, den man bisher nur aus der Kriegszeit kannte: der durch die Krise erzwungene soziale Rollenwechsel. Waren es vor 75 Jahren Frauen, die zu Hause die Rolle der absenten Männer einnehmen mussten, üben sich heute Babyboomer-Ehemänner plötzlich im Brotbacken und Wäschewaschen – sei es aus ehrlichem Wohlwollen heraus oder bloß deswegen, weil es im Homeoffice schwerer fällt, die anstehende Hausarbeit auszublenden. Ob davon auch nach Corona etwas übrig bleibt, ist fraglich.

Vorteil für die Kleinfamilie?

Noch nicht abzuschätzen ist auch, ob die Krise eine Auswirkung darauf haben wird, wie sich Familien strukturieren. Dass das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach gefährlich werden kann, lässt sich an der traditioneller strukturierten italienischen Lombardei ablesen. Ist die Kleinfamilie also im Vorteil?

Ja und nein, meinen Wolfgang Mazal und Olaf Kapella vom Wiener Institut für Familienforschung. Zwar bestehe bei Großfamilien die Gefahr der Ansteckung von alten Menschen, Familien, in denen weniger Generationen physisch zusammenleben, seien dagegen stärker gefordert, das Gefühl von Gemeinsamkeit und Solidarität innerhalb der Familie weiterzuführen. "Die einen sorgen sich, Familienmitglieder zu gefährden, die anderen darum, keinen oder nur bedingt Zugang zu ihnen zu haben."

Vom vorsorglichen Rückzug in die Kleinfamilie, der vielleicht epidemiologisch sinnvoll erscheint, halten die Wiener Forscher ebenso wenig wie der deutsche Kulturtheoretiker Dirk Baecker. Die Kleinfamilie ist seines Erachtens nämlich im Vorteil und im Nachteil. "Sie darf zusammenhalten, sie erlebt aber auch die Zumutung der Nähe. Das stärkt die Sehnsucht nach der Großfamilie, die ja den unschätzbaren Vorteil hat, dass man sich aus dem Weg gehen kann, ohne die Familie verlassen zu müssen", so Baecker.

Sozial gesehen könne "uns nichts Besseres passieren, als mehrere Generationen unter einem Dach leben zu lassen. Das sorgt für Durchmischung von Erfahrung und Erleben, für die Varianz von Reaktionsmustern und Handlungsalternativen", meint der Soziologe. In jedem Fall sei es aber zu begrüßen, wenn die Krise dazu führt, dass über den Umgang mit kranken und alten Menschen neu nachgedacht werde.

Abschaffen oder bewahren?

In der queerfeministischen Linken tat dies zuletzt die britische Theoretikerin Sophie Lewis: In ihrer Streitschrift Full Surrogacy Now (2019) erhebt sie die provokante Forderung nach Abschaffung der Familie. Altenpflege und Kindererziehung sollten Aufgaben des Staats werden, Leihmutterschaft als bevorzugtes System der Reproduktion Einzug halten. Für die meisten ist das ein dystopisches Szenario, Lewis bringen die Ideen gar Morddrohungen ein.

Dabei hat sie prominente Vordenker, die vom Heil in der (Klein-)Familie ebenfalls nicht überzeugt waren: Der umstrittene Freud-Schüler Wilhelm Reich oder Max Horkheimer, der in der patriarchalen Familie die "Keimzelle des Faschismus" sah.

Klar ist, dass jene Strukturen, gegen die Reich, Horkheimer und die 68er-Generation ankämpften, in heutigen Gesellschaften nur noch abgeschwächt vorkommen. Anschlussfähiger als Lewis’ Radikalposition klingt daher schon jene des Soziologen Richard Sennett: In Civitas (1991) und Zusammenarbeit (2012) verteidigt der mit einer alleinerziehenden Mutter bescheiden Aufgewachsene die Familie. Egal, in welcher Struktur sie auftritt, sei sie vor allem eines: die letzte Bastion gegen Vereinzelung und kapitalistische Durchdringung. (Stefan Weiss, 15.4.2020)