Sandro hat es nicht leicht. Das Leben als Ultra hat Spuren beim 50-Jährigen hinterlassen. Die Falten auf der Stirn sind tief, der Haarschnitt fast unangenehm jugendlich, die Jeansjacke mit Aufnähern ein Relikt aus Zeiten, in denen Sandro, genannt "Mohicano", mehr war als ein Fußballfan, der sich regelmäßig auf der Polizeistation melden musste und in einem Schwimmbad den Rasen mähte. Als er Terry kennenlernt und sich verliebt, stellt er sich die Sinnfrage. Dazu kommt, dass die nächste Ultras-Generation in der fiktiven Napoli-Fangruppe "Apache" nachrückt und andrückt: jung, stylish, aktionistisch, äußerst gewaltbereit. Sandro sammelt in der Sonne Neapels fleißig Spannungsfelder.

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Gar nicht leicht hat es sich auch Francesco Lettieri gemacht. Bisher kümmerte sich der Regisseur aus Neapel vor allem um Musikvideos. "Ultras" (der deutsche Titel "Über das Ergebnis hinaus" wegen Blödheit hier in Klammer) ist sein erster Spielfilm. Die Geschichte des alternden und zweifelnden Ultras Sandro ist eine Gratwanderung: Macht man es den Ultras recht, stößt man das Mainstreampublikum vor den Kopf. Geht man zu weit weg von der Realität, schreien die, die’s wissen müssen, nach Authentizität.

Wer hat's erfunden? Die Italiener

Kai Tippmann betreibt den Blog Altravita. Er lebt im Piemont.
Foto: privat

"Ich habe eindeutig schon größeren Schrott gesehen", sagt Kai Tippmann. Der deutsche Blogger lebt seit 20 Jahren in Italien, aktuell in einer Stadt im norditalienischen Piemont. Auch er hat es, wen wundert's, gerade nicht ganz leicht. Seit 8. März herrscht Ausgangssperre, die Straßen sind leer, präsent ist vor allem die Polizei: "Wir sind in der roten Zone. Persönlich geht es mir aber gut." Der 49-Jährige setzt sich intensiv mit dem italienischen Fußball und der Fanszene auseinander, dokumentiert das auf seinem Blog Altravita. In Italien ist Fußball unweigerlich mit dem Begriff der Ultra-Bewegung verbunden. Die Italiener haben's erfunden. "Der Film funktioniert auf manchen Ebenen gut. Der innere Konflikt Sandros, ob er mit 50 noch immer asozial auf Fußballplätzen abhängen will oder sich doch seinen spießigen Träumen von einer Wohnung mit Meerblick hingeben soll, ist schön herausgearbeitet. Auch der Generationenkonflikt innerhalb der Gruppe ist real", sagt Tippmann.

Ultras gibt es in Italien als Massenbewegung seit den Siebzigern, Spannungen zwischen Alt und Jung machen die meisten Kurven durch. Schrecklich überzeichnet sei hingegen die Auswärtsfahrt nach Rom, auf die sich die Gruppe zugekokst und mit Waffenkisten im Laderaum eines Lieferwagens macht. So stellt man sich Fußballterror vor: "Das war gar nicht notwendig und ist so repräsentativ wie ein weißer Rabe. Man hätte sie auch einfach in einen Bus setzen können. Das haben sich Ultras in ihrer Mythomanie aber auch ein bisschen selbst zuzuschreiben." In vielen anderen Szenen erkenne man, dass der Regisseur die Gruppendynamik eigentlich verstehe, die Auswärtsfahrt nach Rom sei aber vor allem "eine plakative Übertreibung. Eine Extremisierung des Konzepts Ultra."

Romantik und Kriminalität

Der Film spielt in Neapel, der Stadt am Vesuv, um die sich so viele Mythen ranken. Mythen zwischen Kriminalität und Romantik, zwischen Leidenschaft und Armut. Lettieri schafft eine schöne Bildsprache zwischen dem rohen Proletarischen Neapels und der Romantik eines Canzone napoletana. Das bei weitem größte Spannungsfeld "Ultras vs. Mehrheitsgesellschaft" schwingt immerhin mit. Ein Spannungsfeld, das seit der Entstehung der Bewegung aufrecht ist. Jüngste Beispiele waren die Diskussionen in Deutschland rund um die Proteste gegen Hoffenheim-Eigentümer Dietmar Hopp.

Bergamo-Fans.
Foto: APA/AFP/MIGUEL MEDINA

Dabei ist es recht einfach: "Ultra ist eine Subkultur, eine Jugendkultur. Sie wollen provozieren und anecken. Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft ist ja das wichtigste Kriterium. Wer möchte denn seinen Protest in einer Jugendkultur Ausdruck verleihen, die auch Angela Merkel gut findet." Missverständnisse sind dabei nicht nur Kollateralschäden, sondern gewollt. Provokation, Empörung, mehr Provoaktion, noch mehr Empörung – die vermummte Katze beißt sich in den Schwanz.

Die Mauer bröckelt

Kürzlich bröckelte die vermeintliche Mauer zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Ultras. Als organisierte Fans der Curva Nord von Atalanta Bergamo mithalfen, ein Feldkrankenhaus für Corona-Patienten aufzubauen, waren viele überrascht. Der mediale Tenor war einheitlich, die Geschichte ist aber auch zu schön: Die bösen Buben können doch auch gut sein. Für Tippmann gar nichts Ungewöhnliches: "In Italien waren bei Katastrophen immer die Ultras als Erste da und haben angepackt. Beim Brückeneinsturz in Genua, bei den Überschwemmungen in Cagliari, beim Erdbeben in Mittelitalien."

Warum? "Sie sind organisiert, jung, männlich und haben vielleicht einschlägige Berufe. Und das in einem Land, in dem man nicht auf die Zentralregierung in Rom warten kann, weil da keine Hilfe kommt oder erst einen Monat später. Die Ultras sind am Nachmittag da und räumen Keller frei." (Andreas Hagenauer, 15.4.2020)