Da ist diese Jacke. Sie hängt im Schaufenster eines noblen Geschäfts im ersten Bezirk. Eine Jacke, braun wie ein Stollwerk-Zuckerl, vom Schnitt her ein Modell, wie es Alain Delon in den 60ern trug. Ich glaube, im Streifen Nur die Sonne war Zeuge. Seit vier Wochen komme ich jeden Tag an dieser Jacke vorbei, wenn ich nachmittags meine Runde durchs Grätzel drehe, um den Muff der Heimarbeit aus meiner Schreibstube loszuwerden. Seit ungefähr einer Woche sage ich zu der Jacke, "Hallo Jacke!", wenn ich vorbeistrawanze. Ehrlich!

Vier Wochen und einen Tag begleiteten mich außer der Jacke die Bilder einer Geisterstadt bei meinem Streunen. Andere Weggefährten während dieser Zeit waren Kirchenglocken und wahrscheinlich immer dieselben Tauben. Die Vögel sind verdammt schwer zu unterscheiden. Und da lagen auf meinem Weg all die Geschäfte, hinter deren Auslagen gespenstische Dunkelheit herrschte. Ein zwangsweise geschlossenes Geschäft hat etwas Trauriges, seine Auslage verliert an Strahlkraft. Es vermittelt den Eindruck von einer Art Wachkoma, verdüstert auf Dauer dem Passanten den Blick, wie schmal seine Geldtasche auch sein mag.

Schauen, kaufen, bummeln, shoppen, wie immer man es nennen will, bedeutet etwas Lebendiges, steht für ein mehr oder weniger intensives In-Beziehung-Treten mit Dingen von einem Verhältnis zu etwas, das wir haben wollen oder brauchen sollen.

Geschlossene Läden in Shoppingcentern, ...
Foto: Heribert Corn

Jedes Geschäft, jeder Kauf folgt einer eigenen Dramaturgie, ein Laden wird zur Bühne, das Schaufenster fungiert als Programmheft. Verkäufer, Kunde und Waren werden zu Darstellern, Vernunft und Unvernunft zu Souffleusen. Einkaufen entspricht einem Teil unserer Kultur, bei allem Schindluder, das einen so manches im "worldwide" Konsumwahn verteufeln lässt. Dennoch: Warum spielen Kinder "Kaufmannsladen"? Eben. Palim, palim!

... leere Lokale ...
Foto: Heribert Corn

Geschäfte sind Orte der Begegnung mit Schuhen, chromstahlblitzenden Kaffeemaschinen, T-Shirts, Rasierwässerchen, Taschenmessern, Salatschüsseln und Gartenkrallen aus gehärtetem Weiß-der-Kuckuck-was. Konsum bedeutet Abwägen, steht nicht selten für eine innere Rauferei zwischen Irrationalität, Geltungskonsum und Vernunft, wobei Zweiteres nicht selten wie ein Vierbeiner angeleint vor dem Geschäft warten muss. Die Bandbreite zwischen "benötigen" und "haben wollen" ist so breit wie die Mariahilfer Straße lang.

Man könnte in diesem Zusammenhang von individuellen Mythen des Alltags sprechen. Das Glücksgefühl gegenüber Dingen erkaltet und erlahmt manchmal, lang bevor die Kreditkartenabrechnung ins Haus flattert, vielleicht entwickeln wir aber zu dem einen oder anderen Objekt eine Beziehung, die eine Jacke zur Lieblingsjacke werden lässt, von der es sich zu trennen unmöglich erscheint, obwohl der Kleiderschrank keinen Mangel an dieser Gattung aufweist. No risk, no fun!

... verstaubte Auslagen in der Stadt.
Nun wird "hochgefahren", wir können wieder in homöopathischen Dosen konsumieren.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Versuchen wir es so: Ich glaube mich zu erinnern, dass das Erste, was einem in der Handelsakademie in Betriebswirtschaftslehre beigebracht wird, ist, den Unterschied zwischen Bedürfnis und Bedarf zu definieren. Wenn mich mein Gedächtnis nicht beschummelt, steht ein Bedürfnis für das Gefühl eines Mangels, mit dem Wunsche, diesen zu beheben, der Bedarf für Bedürfnis plus Kaufkraft. Was einem nicht beigebracht wird: Das Bedürfnis kann ein Hund sein. Der Bedarf auch. Die Jacke in der Auslage sowieso.

Versuchen wir es anders: Mein Onkel nannte die Befriedigung von Bedürfnissen, die über wirklich benötigte Dinge hinausging, "Aktion ‚Sei gut zu dir!‘". Startete er eine solche Aktion, ging er los und kaufte sich zum Beispiel eine Füllfeder. Ein anderes Mal war ein Fernglas das Objekt seiner Begierde. Der gute Mann begeisterte sich weder für die Oper, noch blies er zum Halali auf der Jagd, und auch die Seefahrt war nicht das seine. Das Fernglas musste trotzdem her. Ich glaube, er erfreut sich bis heute daran. Bestimmt.

Was ich mir nach vier Wochen der Konsumenthaltsamkeit gönnen werde? Vielleicht Bleistifte. Ich liebe Bleistifte. Oder Feinripp-Unterhemden. Ich steh’ auf blütenweiße Feinripp-Unterhemden. Kann gar nicht genug davon fein säuberlich in der Lade stapeln. Die Jacke? Glauben Sie wirklich, ich brauche noch eine Jacke? Eine Jacke allerdings, die ich vier Wochen lang durch die Scheibe grüße, muss schon eine ganz besondere sein. Ich muss jetzt mal los. (Michael Hausenblas, 15.4.2020)