Im Gastkommentar widmet sich Walter Osztovics von Kovar & Partners der Big-Data-Revolution im Gesundheitswesen. Neben Vorteilen sieht er auch Nachteile – eine vernünftige Regulierung sei unumgänglich.

Im Kampf gegen das Coronavirus haben die Behörden in aller Welt eine neue Waffe entdeckt: das Handy. Das kleine Ding, das nahezu jeder ständig bei sich hat, eignet sich hervorragend zur Überwachung. Länder wie Südkorea und Taiwan, die gern als Vorbilder zitiert werden, haben die Seuche unter anderem deshalb so schnell in den Griff bekommen, weil sie die Bewegungsprofile ihrer Bürger lückenlos überwachen und im Falle von Infektionen sogar ins Internet stellen, damit jeder nachsehen kann, ob er mit so einer Person Kontakt hatte. Israel hat die sonst bei Terrorverdächtigen üblichen Observierungen auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. Apps wie die des Österreichischen Roten Kreuzes, die hierzulande so heftig diskutiert wird, sind mittlerweile in vielen europäischen Ländern in Gebrauch oder in Vorbereitung.

Daheimbeiben oder überwachen lassen.
Foto: AFP / Indranil Mukherjee

Ihr Einsatz drängt sich ja geradezu auf: Wenn die Geschäfte nun wieder schrittweise öffnen und die strengen Ausgangsbestimmungen gelockert werden, dann kann ein neuerliches Aufflammen der Epidemie logischerweise nur verhindert werden, indem jeder neue Verdachtsfall samt seinen Kontakten möglichst rasch erkannt und isoliert wird. Solange kein Anti-Corona-Impfstoff zur Verfügung steht, haben wir nur die Wahl: daheimbleiben oder sich überwachen lassen.

"Big-Dataisierung" des Gesundheitswesens

Natürlich geht es da zunächst nur um Notmaßnahmen in Zeiten des Ausnahmezustands. Doch dahinter steckt wesentlich mehr. Die Covid-19-Krise hat eine Entwicklung massiv beschleunigt, die sich schon seit längerem eher unbemerkt ankündigt, nämlich die Digitalisierung des Gesundheitswesens, genauer dessen "Big-Dataisierung". Das großflächige Sammeln und Auswerten von Daten wird zunächst die Vorsorge- und Früherkennung revolutionieren, später auch die Behandlungsmethoden.

So lautete bereits im Jänner eine der Vorhersagen der "Arena Analyse 2020 – Wir wissen, was wir tun". Drei Monate später lässt sich die Vision einer datengetriebenen Medizin für jedermann leicht nachvollziehen: Was wäre, wenn alle Menschen Fitness-Armbänder trügen, die neben dem Puls auch die Körpertemperatur messen? Wäre damit nicht eine erste grobe Vorselektion von Corona-Verdachtsfällen möglich? Jedenfalls könnte das gelingen, wenn zusätzlich noch einige weitere Symptome abgefragt werden. Genau das tut tatsächlich gerade das Weizmann Institute of Science in Tel Aviv: Über eine Handy-App beantworten 100.000 Freiwillige täglich sieben Fragen zu ihrer körperlichen Verfassung, die Auswertung der Daten zeigt, an welchen Orten bevorzugt getestet werden sollte.

Datensammelnde Pflaster

Fitnessarmbänder und Smartphone-Befragungen sind dabei lediglich die banalen Anfänge. Dahinter wartet bereits eine ganze Familie von sogenannten Wearables ungeduldig auf ihren flächendeckenden Einsatz. Es handelt sich um datensammelnde Messgeräte, die am Körper getragen werden. Manche sehen aus wie Armbanduhren, manche wie ein Flinserl im Ohr, manche sind auch Pflaster, die auf die Haut geklebt werden. Im Inneren enthalten sie Sensoren, die zum Beispiel den Puls messen und ein EKG schreiben, oder sie überwachen den Glukose-Haushalt von Diabetikerinnen und Diabetikern. Ein Asthma-Armband soll schon bald Herzschlag und Sauerstoffgehalt im Blut erheben, mit meteorologischen Daten abgleichen und so vorab vor Asthma-Attacken warnen.

Genau das ist auch der Grund, weshalb Experten diesen Geräten eine große Zukunft vorhersagen: Menschen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes oder auch nur einem erhöhten Herzinfarktrisiko werden es zu schätzen wissen, wenn sie unter Dauerüberwachung stehen. Die Daten könnten zum Beispiel an den Computer des Hausarztes gefunkt werden, wo ein Algorithmus den Doktor alarmiert, falls einer der Werte ausschlägt. Auch Gesunde könnten auf die Idee kommen, so etwas zu tragen, wenn sie sich damit die nächst Vorsorgeuntersuchung ersparen.

Herausforderung Datenschutz

Hier liegt bereits eine enorme Herausforderung für den Datenschutz: Man muss die Entwicklung in richtige Bahnen lenken, denn stoppen lässt sie sich nicht, dafür gibt es einfach zu viele Betroffene, die auf ihre digitalen Aufpasser nicht verzichten wollen. Noch dazu gehen Big-Data-Anwendungen über das individuelle Monitoring hinaus, ihr Reiz besteht darin, wie der Name schon sagt, dass Erkenntnisse aus einer großen Zahl von Daten gewonnen werden. Die konkreten Personen können dabei völlig unerkannt bleiben, auch beim Corona-Screening des Weizmann-Instituts wird keiner der Teilnehmer persönlich identifiziert. Angenommen, ein paar Millionen Österreicher tragen Datenpflaster, die täglich (warum nicht stündlich?) ein paar simple Körperfunktionen messen und anonym an den Computer des Gesundheitsministeriums oder der Sozialversicherung melden: Schon aus diesen eher simplen Informationen ließe sich sehr viel an statistischem Wissen über den Gesundheitszustand des Landes ablesen, über regionale Unterschiede, Jahresverläufe, Gefahrenpotenziale – wertvolles Wissen für die Planung von Kassenstellen, Spitalskapazitäten, Medikamentenvorräten und noch mehr.

Potenzielle Horrorvision

Doch das Beispiel ist auch eine potenzielle Horrorvision. Wie verlässlich wird denn die Anonymität wirklich gewahrt? Zudem lassen sich Daten nur schwer wieder beseitigen, wenn sie einmal gespeichert wurden. Wie kann verhindert werden, dass sie der übernächste Gesundheitsminister oder gar ein Hacker aus der Cloud holt? Noch kantiger wird das Nebeneinander von Nutzen und Gefahr, wenn ein individueller Befund mit Big Data abgeglichen wird. Der Vergleich mit Millionen anderer Fälle aus anderen Datenbanken ermöglicht sehr präzise Risikoprofile – gut, wenn das meine Ärztin weiß, aber schlecht, wenn mir deshalb die Versicherung eine höhere Prämie verrechnet oder ich einen Job nicht kriege, weil mein Mitbewerber die bessere Gesundheitsprognose vorlegt.

Viele offene Fragen: Die soeben anlaufende Big-Data-Revolution im Gesundheitswesen schreit nach vernünftiger politische Regulierung. Österreich sollte sich rasch um dieses Thema kümmern, denn die Wearables liegen bereits in den Regalen. Gesundheitsdaten werden so oder so gesammelt, nur landen sie ohne vernünftige Gesetze eben bei Google, Amazon, Alibaba und Konsorten. (Walter Osztovics, 15.4.2020)