Zahlen spielen in der Medizin schon immer eine wichtige Rolle, doch so entscheidend wie derzeit waren sie noch nie. Wenn Stephan Kettner, derzeit Intensivbettenkoordinator des Wiener Krankenanstaltenverbunds (KAV), seinen Laptop öffnet, sieht er sich zuerst die täglichen Sars-CoV-2 Steigerungsraten an. Momentan liegen sie unter zwei Prozent. "Damit kommen wir sehr gut zurecht", sagt er und meint damit die Auslastung der Intensivbetten in Wien in acht bis zehn Tagen.

Die Covid-Intensivstation im Krankenhaus Hietzing. "Intensivmedizin ist unglücklicherweise zu teuer, um große Reserven bereithalten zu können," sagt Stephan Kettner.
Foto: KAV

Denn so sieht die Planung der Intensivmediziner derzeit aus. Aus den täglich neuen Infektionszahlen erstellen Kettner und seine Kollegen vom Krisenstab eine Prognose für in acht Tagen. Die Erfahrungen zeigen, dass der Anstieg der Spitalsaufnahmen der Sars-CoV-2-Infizierten gleich ist wie jener der Neuinfektionen, allerdings mit einer zeitlichen Verschiebung von etwa einer Woche. Und aus der Anzahl der Neuinfizierten lässt sich auch abschätzen, nicht wer, aber wie viele Menschen dann Intensivmedizin brauchen. Von den im Spital Aufgenommenen sind es circa zehn Prozent.

Gut vorbereitet

Diese Rechnung, das hat Kettner in den letzten vier Wochen gesehen, funktioniert. Je weniger positiv Getestete, umso mehr Betten blieben im Kaiser-Franz-Josef-Spital, im Krankenhaus Hietzing, im Donauspital und im Otto-Wagner-Krankenhaus frei. Es sind die vier Covid-Behandlungszentren in Wien. "Keines ist derzeit überlastet, die Kranken sind gut verteilt", so Kettner, der den Belegungsstand der Stationen genau im Visier hat. "Die oft kritisierte hohe Bettenzahl ist jetzt unser Schutzgürtel", bestätigt Ettl, Gesamtkoordinatorin des Corona-Krisenstabs im KAV.

Stephan Kettner ist einer von sieben Intensivbettenkoordinatoren des Wiener Krankenanstaltenverbunds. Der Anästhesist und Intensivmediziner jongliert täglich mit Infektionszahlen und Kapazitäten in den Spitälern. "Wir sind auf neue Corona-Wellen vorbereitet", sagt er.
Foto: Martin Votava / KHR

Die Tatsache, dass Österreich im internationalen Vergleich sehr wenige Covid-Tote zu beklagen hat, könnte mit der der Anzahl der Intensivbetten in einem Land zu tun haben, vermuten Experten. Je mehr verfügbar sind, umso weniger Menschen sterben, zeigt die Statistik. Österreich hat für 100.000 Einwohner 28 Intensivbetten zur Verfügung, Deutschland 33. Im Gegensatz dazu steht Italien mit 8,6 oder Spanien mit 9,7. "Erst bei täglichen Steigerungsraten von 18 Prozent würden wir hier auf den Intensivstationen in Wien an eine Kapazitätsgrenzen kommen", sagt Kettner, und rund um den 18. März war genau dies der Fall.

Einen Plan für alle haben

Im KAV rechnet man fix damit, dass es nach der Lockerung der Ausgangsbestimmungen wieder zu einem Anstieg der Infiziertenzahlen kommen wird. "Wir sind auf neue Infektionswellen vorbereitet", sagt Kettner und ist zuversichtlich, mit den derzeitigen Bestimmungen die Infiziertenzahlen in einem bewältigbaren Rahmen halten zu können.

Was versichernd klingt, war organisatorische Knochenarbeit. "In den letzten sieben Wochen haben wir auf Basis des Influenza-Pandemieplans die gesamte Krankenversorgung in Wien umgestellt", betont Brigitte Ettl, ärztliche Direktorin des Krankenhauses Hietzing und an vorderster Front an der Planung beteiligt. Jedes der sechs KAV-Spitäler und auch das AKH haben einen exakt definierten Aufgabenbereich. In vier Häusern gibt es Covid-Stationen mit Intensiveinheiten, drei Spitäler sind Covid-frei.

Durch den allgemeinen Fokus auf Sars-CoV-2 in den Hintergrund geraten ist die Tatsache, "dass wir ja auch weiterhin sämtliche medizinischen Notfälle behandelt haben und auch all jene Therapien durchführen, die nicht aufgeschoben werden dürfen", sagt Ettl und meint Krebsbehandlungen mit Chemo- und Strahlentherapien. Es gebe aber auch noch viele viele andere, die Versorgung brauchen. Deshalb wolle man nun langsam auch den Regelbetrieb in den Spitälern wieder hochfahren, so Ettl.

Jeder könnte positiv sein

Die große Herausforderung dabei: Jeder Einzelne, der ins Spital kommt, könnte rein theoretisch Sars-CoV-2-positiv sein. "Insofern müssen die sehr hohen Sicherheitsanforderungen auf jeder einzelnen Ambulanz, jeder Station und in jedem Operationssaal eingehalten werden. Auch ein Patient mit entzündetem Blinddarm, der dringend operiert werden muss, könnte zusätzlich Sars-CoV-2-positiv sein", veranschaulicht Kettner die Problematik. Deshalb müsse man Sorge tragen, dass die Hygienevorschriften penibel eingehalten werden.

Die größte Herausforderung sind für die Planer die Verdachtsfälle mit unklaren Symptomen, die es in Zukunft geben wird. Sie müssen isoliert werden – zumindest so lange, bis das Ergebnis des PCR-Tests vorliegt, also bis zu zwei Tage. Solche Verdachtsfälle dürfen auch keinesfalls gemeinsam in einem Krankenzimmer liegen. "Wir denken, dass sich in Italien sehr viele nichtpositive Patienten aufgrund mangelnder räumlicher Isolierung dann im Krankenhaus mit Sars-CoV-2 angesteckt haben", so Kettner. Der Corona-Krisenstab des KAV will genau dieses Risiko durch entsprechende Strukturen in der Krankenversorgung von vornherein ausschließen. Die Überstellung in die Covid-Stationen erfolgt deshalb erst, wenn ein positiver PCR-Test vorliegt, die Erkrankung also bestätigt ist.

Von Italien lernen

Bei jeder Maßnahme geht es darum, Infektionsrisiken so gut wie möglich zu minimieren. Nicht nur die Kranken, sondern auch das medizinische Personal muss extrem gut geschützt werden, weil sonst auch Ärzte und Pflegekräfte gefährdet wären und zu Multiplikatoren für das Virus werden könnten. Auch das war in Italien vermutlich der Fall.

Am Krankenbett eines Intensivpatienten auf der Covid-Station des Krankenhauses Hietzing. Höchster Schutz für Mitarbeiter ist Teil des Corona-Bewältigungspakets.
Foto: KAV

Im Wiener KAV wurde das medizinische Personal deshalb in Cluster aufgeteilt, also Gruppen, die nicht variabel, sondern immer fix zusammenarbeiten. Wenn ein Mitglied des Teams positiv getestet wird und damit alle die Erkrankung haben könnten, kann ein anderes Team einspringen. "Diese Diensteinteilung ist für die Mitarbeiter anstrengend, hilft aber, mögliche Ansteckungen unter den Krankenhausmitarbeitern gering zu halten, und verhindert, dass ganze Stationen personell lahmgelegt werden", erklärt Kettner, dem klar ist, dass dieser Betrieb in den nächsten Monaten auch so weiterlaufen wird. Denn alle Experten sind sich einig: Das Coronavirus wird nicht von dieser Welt verschwinden, man muss warten, bis es eine Impfung gibt, und das wird in frühestens einem Jahr so weit sein. Im KAV hat man ein System geschafften, in dem Covid-Patienten und die überwiegende Mehrzahl aller anderen Menschen mit diversen Erkrankungen weiter versorgt werden können.

Fokus auf alle Patienten

Die Regelversorgung wird in den Wiener Spitälern auch gerade wiederaufgenommen. Waren alle Operationen bislang auf Eis, fährt man die Krankenversorgung derzeit wieder nach oben, die vor der Corona-Krise geplanten Eingriffe sollen nun wieder stattfinden. Waren viele Anästhesisten bislang als Intensivmediziner in den Covid-Stationen beschäftigt, kann ein Teil von ihnen wieder auf die Fachabteilungen und in die Operationssäle zurück, wo sie dafür verantwortlich sind, dass Patienten Narkosen bekommen.

Brigitte Ettl, ärztliche Direktorin des Krankenhauses Hietzing, ist im Krisenstab des Krankenanstaltenverbunds. In den letzten Wochen wurde die Patientenversorgung auf neue Beine gestellt.
Foto: KAV/Eva Kelety

Allerdings: Mit der Lockerung der Isolationsregeln werden auch die Infektionszahlen wieder ansteigen. "Es wird also ein ständiges Ausbalancieren von Kapazitäten sein", wagt Kettner einen Blick in die Zukunft, in der er sich an den Zahlen orientieren wird. "Wenn wir sehen, dass die Infektionsraten steigen, bauen wir auch unsere Kapazitäten wieder um." Gleichzeitig wird auch der Infektionsstatus des Personals durch viele PCR-Tests sehr engmaschig überwacht werden.

"Das Wichtigste in der Corona-Krise bleibt eine gute Kommunikation", betont Brigitte Ettl, weil sie die Sorgen ihrer Mitarbeiter kennt. Viele hätten die Angst, sich selbst anzustecken, es gab die Sorge der mangelnden Schutzausrüstung. Zudem war es durch die gesetzlichen Einschränkungen ja auch unmöglich, sich mit der Kollegenschaft auszutauschen. Ettl hat für die Verunsicherung volles Verständnis. Auch sie redet mit den meisten ihrer Mitarbeiter nur mehr per Videokonferenz. "Mit Covid hat tatsächlich eine neue Zeitrechnung in der Krankenversorgung begonnen", bestätigt Kettner, der sich darauf einstellt, das gesamte nächste Jahr je nach Stand der Infektionszahlen Kranke durch das neu geschaffenen System zu jonglieren. "Intensivmedizin ist unglücklicherweise zu teuer, um große Reserven bereithalten zu können", betont er und sieht in der Kooperation zwischen den Spitälern die einzige Lösung. Die Krise ist für alle ein "Work in Progress", und jeden Tage wieder werden die aktuellen Zahlen entscheiden, welche Handlungen für die Krankenversorgung zu treffen sein werden. (Karin Pollack, 16.4.2020)