Xaver Bayer (42) flaniert tapfer durch eine Welt, in der der Sadismus lauert.

Foto: Sepp Dreissinger

Wer immer sich hinter dem ehrwürdig überlieferten Frauennamen "Marianne" tatsächlich verbirgt: Mit der Person gleichen Namens, die in Xaver Bayers neuem Erzählband ein äußerlich eher unauffälliges Dasein fristet, ist nicht gut Kirschen essen. Auch wenn sie sich z.B. auf die ungemein nützliche Kunst des Marmelade-Einkochens versteht.

In 20 Variationen ein- und desselben Themas verrückt Bayer, dieser versierte Flaneur unter den heimischen Prosaathleten, die geläufigen Parameter der Wahrnehmung. Zu Anfang begegnen wir zumeist Proben einer trauten, allenfalls durch Gewohnheit erodierten Zweisamkeit. Der Ich-Erzähler, diese wohlvertraute Charaktermaske aus zahlreichen Xaver-Bayer-Büchern, schlüpft durch den Alltag eines Mittelstandes, der sich aller misslichen Daseinssorgen überhoben wähnen darf.

Ein Muster an Berechenbarkeit

"Ich" ist das wohlvertraute Muster an Berechenbarkeit, das beim Kochen an der Herdzeile gerne die erste Flasche öffnet; das auf der Festplatte hübsche Zitate von Leonard Cohen oder Jules Verne parat hält, nur für den Fall, das man mit der Herzallerliebsten die Klingen der Gelehrsamkeit kreuzen möchte. Auch das gehört nämlich zu den Pflichten von uns mittleren Entscheidungsträgern in den angeblich schmerzberuhigten Zonen: tapferes Sublimieren, wobei die Nutzlosigkeit der Bildung dabei hilft, das Gebot der eigenen Nützlichkeit wenigstens für kurz in Vergessenheit geraten zu lassen.

Im Irrsinn einer Welt, die wie ein sperriges Möbelstück um ein paar entscheidende Zentimeter verschoben wirkt, landet dieses brav durchschnittliche "Ich" innerhalb von zwei, drei Seiten. Ein Gang in den Keller, um sich des Besitzes von ein paar Einsiedegläsern zu versichern, kann bereits ausreichen, um in einem Labyrinth aus morastigen Wegen zu verschwinden. Mit schmucklosen römischen Ziffern überschrieben, führen alle Wege in dieser Prosa aus falschen Gewohnheitsecken heraus, direkt in den Horror. "Geschichten mit Marianne", diese vielteilige Meisterprobe Xaver Bayers, ist ein wenig ein Buch der (aus Corona-Gründen stillgestellten) Stunde. Es bedarf kaum eines Handumdrehens, um das chaotische, totalitäre Gewimmel unter dem sorgsam geglätteten Stein des Alltags freizulegen.

Und so reizen die Abenteuer dieses Simpels "Ich" sogar zu schallendem Gelächter, gerade auch dann, wenn Bayer geduldig Planken auslegt, die – gleich hinter der Staatzer Klippe? – hinein in Kafkas Schloss führen. In dessen zugiger Ruine soll der Held, Marianne zuliebe, ein Exemplar von Franz Kafkas Das Schloss aus dem Regal der Burgbibliothek pflücken: in finsterster Nacht, nur vom Handy-Knopf im Ohr durch die unendlichen Korridore der (eigenen) Psyche geleitet.

Es ist die stürmische See, die vor den Fensterläden braust und wütet. Und so ist für diesmal Bayers feine Prosa die Axt, die das gefrorene Meer in uns spaltet. In einer anderen "Geschichte mit Marianne" wird gleich die gesamte Welt einem Autodafe überantwortet. Ein paar Bücher hat sich Bayer jedoch aufbewahrt: solche teuflisch ausgefuchsten wie die des großen Giorgio Manganelli. Marianne, die ihren Liebling bis aufs Blut quält, hat für ihren Begleiter eine mögliche Lösung so vieler Rätsel übrigens parat: "Ist nicht, wer Böses fürchtet, / schon selber bös genug?" (Josef Weinheber) (Ronald Pohl, 16.4.2020)