Schon eine Weile her: "Fidelio" an der Staatsoper mit Chen Reiss als Marcelline

Pöhn

Wie alle kulturellen Manifestationen ist auch das Beethoven-Jahr durch Absagen ordentlich zerknautsch worden. Die israelische Sängerin Chen Reiss trifft dies hart. Sie hat immerhin aber einen gewichtigen Teil der Feiertermine mitgestalten können. Als Ensemblemitglied der nunmehr im Tiefschlaf und Kurzarbeit ruhenden Wiener Staatsoper bescherte die Sopranistin dem Ur-Fidelio edle Momente, welche die letzten dieser Staatsopernsaison geworden sind. Bezogen auf Premieren.

Es wäre noch ein "Fidelio" (in der späten Fassung) nachgekommen, es sollte jedoch nicht mehr sein. Die Sopranistin hat allerdings mit "Immortal Beloved" (Onyx) immerhin eine CD mit raren Beethoven-Arien und -Liedern herausbringen können, bevor nahezu jegliche Aktivität angehalten wurde. Sie zeigt dabei ebenso Gefühl für zarte Spitzentöne und Kantilenen wie sie auch über die Fähigkeit verfügt, Koloraturen mit Leichtigkeit und Klarheit auszustatten. Bei Bedarf punktet sie auch Richtung Dramatik – wie etwa bei "Ah! perfido. Spergiuro‘…"

Instrumental denken

Reiss bestätigt, dass Beethoven für Sänger eine Herausforderung ist: "Er hat auf jeden Fall beim Gesang instrumental gedacht. Gerade bei "Fließe, Wonnezähre, fließe" hält man die Läufe und Koloraturen eher für Violine als für Gesang komponiert – das ist sehr herausfordernd. Der Konzept der Übergänge in der Stimme, also Pasaggio, existiert kaum bei Beethoven, was heute noch schwieriger ist, als zu seinen Lebzeiten, da die Stimmung höher ist als früher und die Aufführungspraxis anders ist. Deshalb wollte ich die CD unbedingt mit einem Originalklangensemble, also der Academy of Ancient Music und Dirigent Richard Egarr aufnehmen, da der Klang einfach besser passt!"

In der Vorbereitung auf die Lieder käme natürlich die Technik zuerst. Wenn das Stück sozusagen "in der Kehle sitzt", käme der Ausdruck, sagt Reiss. "Das ist der einzige Weg, diese Lieder überzeugend zu singen! Bei langen Stücken wie ,Primo amore‘ muss der Charakter unbedingt in den Vordergrund, um die Spannung zu halten. Da reichen schöne Töne nicht. Außerdem hilft einem der Ausdruck über die schwierigen Passagen."

Student bei Haydn

Es handelt sich beim erwählten Repertoire um frühe Stücke Beethovens. Dennoch seien diese "absolut unverwechselbar. Sein Stil und die musikalische Sprache sind sehr markant, Beethovens Handschrift ist ganz klar! Bei zwei Arien sind Anklänge an Haydn zu hören, interessanterweise hat er diese noch vor seiner Studienzeit bei Haydn geschrieben. ,Fließe, Wonnezähre, fließe‘ ist wiederum eigentlich keine reine Solo-Arie, mehr ein Trio, da Cello- und Flötenpart genauso solistisch wie der Sopranpart gestaltet sind. In ihrer Einfachheit und musikalischen Transparenz erinnert das Stück aber stark an Haydn."

Bei der Buffo-Arie "Soll ein Schuh nicht drücken" schimmere wiederum Haydns Humor stark durch. An beiden Arien "erkennt man gut, dass Beethoven mit einem Bein noch tief in der Wiener Klassik steht. ,Perfido‘ oder die Egmont-Arien klingen da schon mehr nach dem zukünftigen Beethoven, sind viel dramatischer angelegt und tragen ein stark revolutionäres Potenzial in sich. "Non non turbati" schrieb er schließlich während seiner Studienzeit bei Salieri, klingt aber gar nicht nach diesem, wenngleich hier mehr italianità transportiert wird", so Reiss.

Generell sei bei Beethoven auffallend, dass das Orchester ein selbstständiger Part ist und nicht lediglich begleitet: "Es nimmt eine sehr dominante Rolle bei der Entwicklung jeder Arie ein. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum Orchester Beethoven-Arien eigentlich sehr gerne spielen."

Musiker gezielt getroffen

Die 1979 in der Küstenstadt Herzlia geborene Reiss spekuliert natürlich auch über den Charakter Beethovens: "Man weiß aus Quellen, dass er ernst war. Unwahr ist, dass er sich generell unfreundlich gegenüber Sängern verhalten habe. Im Gegenteil, er hat Sänger und Musiker gezielt getroffen, um mit ihnen seine Musik zu diskutieren und Verbesserungen einfließen zu lassen." Reiss nennt ein Beispiel: " ,Soll ein Schuh nicht drücken‘ schrieb der junge Beethoven für die Sängerin Magdalena Willmann, die gleichzeitig die Nachbarstochter in Bonn und seine Angebetete war. Die Arie war für das Singspiel ,Die Schusterin‘ bestimmt und zeigt eine unbekannte erfrischende und leichte Seite Beethovens."

Wie die meisten Zeitgenossen, ist auch Reiss zur Häuslichkeit verurteilt. "Ich bin momentan in Wien, da ich an der Wiener Staatsoper unter Vertrag bin. Die Zeit verbringe ich mit meiner Familie und versuche, meine Kinder bei Laune zu halten und zu üben. Die neue Realität ist natürlich unangenehm. Momentan habe ich aber auch den Eindruck, dass viele Leute mehr Musik konsumieren und ich viele schöne Rückmeldungen erhalte. Und da die Musik von Beethoven schon viele schwierige Zeiten überlebt hat, wird das auch jetzt der Fall sein."

Am 12.3 war Schluss

Nicht alle ihre Pläne sind gecancelt: "Für den Sommer ist die neunte Symphonie und Missa Solemnis mit der Wiener Akademie geplant, ich freue mich schon sehr darauf. Die meisten Konzerte bis Juni sind abgesagt, die Situation ändert sich jeden Tag. Auch hier heißt es, zuversichtlich zu bleiben, egal ob sie früher oder später stattfinden."

Ihr letztes Prä-Corona-Konzert hatte Reiss übrigens am 5. März mit einem Beethoven-Programm auf einer "Tournee in Istanbul, dort war nichts spürbar von den Umbrüchen, die uns bevorstanden. Am 11. März haben für mich noch Proben in Dresden für ,Alcina' begonnen, am 12. März aber wurden bereits alle Vorstellungen bis Ende April abgesagt." Und bald wurde auch klar, warum… (Ljubisa Tosic,15.4.,2020)