Im Gastkommentar warnt Stefan Lehne, Gastwissenschafter bei Carnegie Europe, vor nationalen Alleingängen. Brüssel sei um Koordination bemüht, derzeit erweise sich die "am wenigsten demokratische Institution, die Europäische Zentralbank, als das mit Abstand effektivste europäische Krisenmanagementinstrument".

Es ist, als wäre Österreich Anfang März aus der Europäischen Union ausgetreten. Schengen ist Geschichte; die Grenzen sind zu. Als gäbe es keinen Binnenmarkt, verhandelt Österreich mit Deutschland über die Lieferungen medizinischer Schutzausrüstung und mit Rumänien über die Einreise von Pflegerinnen. Einschränkungen des öffentlichen Lebens, aber auch die nun beginnenden Lockerungen werden ohne erkennbare Koordination auf europäischer Ebene beschlossen. Die EU-Regeln für Budgetdisziplin und Staatenbeihilfe sind suspendiert. Milliardenpakete zur Stützung der Wirtschaft werden im nationalen Alleingang lanciert. Die Regierung will die Produktion wichtiger Medikamente und Schutzausrüstungen nach Österreich zurückholen und verordnet den Bürgern den Sommerurlaub in der Heimat. Nie zuvor in der Geschichte des Landes war die Staatsmacht so intrusiv nach innen und so exklusiv nach außen wie in der gegenwärtigen Krise.

War dieser nationale Alleingang im Krisenmanagement unumgänglich? Im Interview mit dem STANDARD ("'Wir sind in dieser Krise nicht machtlos‘") erinnert der frühere Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an die langjährige Forderung nach einer EU-Kompetenz für Epidemien. Mit so einer Zuständigkeit – sagt Juncker – hätte "man Grenzschließungen nicht gebraucht, die dem europäischen Gedanken nicht guttun". Eine schöne Idee; aber ist es wirklich vorstellbar, dass Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides eine Quarantäne über Tirol oder die Lombardei verhängt? Solche Diktate aus Brüssel hätten wohl Volksaufstände zur Folge gehabt. Nur nationale Regierungen haben in der gegenwärtigen Verfasstheit Europas ausreichend Rückhalt in der Bevölkerung, um derartig schwerwiegende Eingriffe in Grundfreiheiten durchzusetzen.

Extra eingeflogen, weil ungarische Grenzen Corona-bedingt dicht waren: dringend benötigte rumänische 24-Stunden-Betreuerinnen bei ihrer Ankunft Ende März in Wien-Schwechat.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Grenzüberschreitende Herausforderung

Während sich Brüssel verzweifelt um Koordination bemüht, drückt die österreichische Regierung mit nationalen Maßnahmen den Reproduktionsfaktor des Virus massiv nach unten. Für viele Bürgerinnen und Bürger mag diese Erfahrung das alte EU-Mantra widerlegen, dass die großen Probleme der Gegenwart nicht im Alleingang, sondern nur gemeinsam gelöst werden können. Aber dies wäre ein Fehlschluss. Das Virus bleibt eine grenzüberschreitende Herausforderung, deren Überwindung durch neue Medikamente oder Impfstoffe nur durch intensive internationale Kooperation erreicht werden kann.

Auch die Normalisierung des Lebens, die schrittweise Öffnung der Grenzen und der wirtschaftliche Wiederaufbau würden viel besser funktionieren, wenn sie auf europäischer Ebene abgestimmt werden. Hirngespinste über Autarkie und den Rückzug in eine selbstzufriedene nationale Idylle werden sehr bald an den harten Fakten der österreichischen Exportquote von 55 Prozent des BIPs zerbrechen.

Effektivstes Instrument EZB

Auf die Bedrohung des Virus reagieren die EU-Staaten mit Selbstisolation, ähnlich wie sie es ihren Bürgerinnen und Bürgern vorschreiben. Aber so naheliegend der Vorrang des nationalen Eigeninteresses in der akuten Bedrängnis auch sein mag, so gefährlich ist er für den europäischen Zusammenhalt. Die bittere Enttäuschung der besonders betroffenen Länder über mangelnde Solidarität trifft auf die Selbstgerechtigkeit der bisher relativ erfolgreichen Staaten. Das Wort von der Schicksalsgemeinschaft erweist sich als leere Phrase, obwohl sich an der Realität der engmaschigen Vernetzung der Wirtschaften und der gemeinsamen Währung nichts geändert hat.

Die wechselseitige Unterstützung zwischen EU-Ländern kam bisher kaum über einzelne symbolische Krankentransfers und Ausrüstungslieferungen hinaus. Neuerlich erweist sich die am wenigsten demokratische Institution, die Europäische Zentralbank, mit einem großen Rettungsprogramm als das mit Abstand effektivste europäische Krisenmanagementinstrument. Die Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten über finanzielle Hilfspakete dagegen sind durch die aus der Finanzkrise bekannten ideologischen Gegensätze zwischen Nord und Süd belastet. Erst nach mehreren Anläufen konnten die Finanzminister schließlich ein Maßnahmenbündel zusammenstellen, bei dem allerdings wichtige Finanzierungsfragen ungeklärt blieben. Und so verbreitet sich derzeit ein Klima der Verunsicherung und Frustration in Europa.

Der Süden trägt die Hauptlast

Dabei stehen wir erst am Anfang der Krise. Auf die schlimmste Gesundheitsbedrohung wird der tiefste Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der EU folgen. Dieser wird die Mitgliedstaaten asymmetrisch treffen, wobei die schwächeren Länder im Süden neuerlich die Hauptlast tragen dürften. Der heute in vielen Mitgliedstaaten vorherrschende nationale Egoismus ist daher brandgefährlich. Er könnte antieuropäische Populisten an die Macht bringen, die Finanzmärkte destabilisieren und die Nord-Süd- und Ost-West-Spaltungen der EU weiter vertiefen.

Noch ist es nicht zu spät, eine gemeinsame solidarische Antwort auf die Corona-Krise zu finden. Wenn dies gelingt, dann haben wir derzeit nur einen längeren Urlaub von der EU genommen. Wenn nicht, dann ist das wohl der Beginn eines langsamen Abschieds. (Stefan Lehne, 16.4.2020)