Die US-Essayistin Maggie Nelson befasst sich in "Die roten Stellen" auch mit der Faszination der Gewalt.

Foto: Harry Dodge

Das Szenario klingt wie eine Folge True-Crime-TV. Ein "Cold Case", ein unaufgeklärter Mord an einer 23-jährigen Frau im Jahr 1969. Jane Mixer, Jus-Studentin und Menschenrechtsaktivistin, fuhr per Mitfahrgelegenheit von der Universität Michigan nach Hause, am nächsten Tag wurde sie auf einem Friedhof ermordet aufgefunden: mit zwei Kugeln im Kopf und einem Strumpf um den Hals. Lange wurde die Tat einem Serienmörder zugeordnet, bis man 35 Jahre später per DNA-Probe den echten Mörder ausfindig machte.

Jane Mixer war die Tante der US-Autorin Maggie Nelson. Die Fakten sind dieser schon vor der Wiederaufnahme des Falles allzu gut vertraut. Nelson hat sich in Jane: A Murder, einer Collage von Tagebuchtexten ihrer Tante und eigener Lyrik, schon einmal dieser traumatischen Familiengeschichte angenähert. Damals war es der Versuch, Jane, der Leerstelle, eine Gestalt zu geben, mit der sie sich identifizieren konnte. Zugleich wollte sie dem "missglückten Trauern" ihrer Familie mit einem kathartischen Akt begegnen.

Maggie Nelson, "Die roten Stellen". Aus dem Englischen von Jan Wilm. € 23,70 / 220 S. Hanser, Berlin 2020.

Mit der Wendung des Falls erscheint ihr dieser Anspruch nunmehr als Anmaßung. Statt der Überzeugung, dass dem Täter seine "gerechte Strafe" ereilt, wächst in ihr nur die Angst: ein "murder mind", die Jan Wilm eine Spur zu poetisch als "Mordgemüt" übersetzt. Gemeinsam mit ihrer Mutter stellt sich Nelson dem Prozess. Sie mieten sich in einer Wohnung ein, durchleiden die Beweisführung, müssen Fotos der misshandelten Jane betrachten – und diesen Fremden, der sie ermordet haben soll.

Die roten Stellen. Autobiografie eines Prozesses ist das Ergebnis dieser Konfrontation. Wer Nelson schon einmal gelesen hat – zum Beispiel das Buch Die Argonauten, in dem sie Theorien der Liebe mit einer queeren Familienkonstellation und ihrer Rolle als werdende Mutter zusammendenkt –, der weiß, dass sich diese exzellente Essayistin nie mit einfachen Antworten begnügt.

Ohne Auflösung, ohne Gerechtigkeit

So ist auch dies kein Buch über einen Gerichtsfall, ohne zugleich eines über den Irrglauben zu sein, dass es am Ende Gerechtigkeit gibt. Geschichten, schreibt Nelson, habe sie nie erzählen wollen, "weil sie uns vielleicht befähigen zu leben, uns aber auch gleichzeitig gefangen halten ...". Sie bevorzugt das Bruckstückhafte, in dem sich unterschiedliche Sichtweisen begegnen können, ohne sich gleich auszuschließen.

Eine, die offen bleiben muss, ist auch jene von Jane. Je mehr man von den Umständen dieses Mordes erfährt, desto beunruhigender wird Nelsons Reflexion, weil sie tief ins Selbstverständnis einer Gesellschaft vordringt. Janes Mordfall wird zum Prisma, das nicht nur Aufschlüsse über Familienkonstellationen erlaubt wie das schwierige Verhältnis ihrer Mutter zu ihrer rebellischen Schwester Emily oder die Trauer über den Verlust des Vaters. Vom Persönlichen gelangt sie zu einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der medialen Faszination der Gewalt, zu den problematischen Repräsentationen, die daraus hervorgehen. Noch vor MeToo geschrieben, erzählt Die roten Stellen davon, wie unhinterfragt solche Narrative oft sind.

Doch Nelsons Ansatz ist nicht moralisierend, sondern durch seine Selbstbezüglichkeit eher schmerzhaft und stets diagnostisch: Sie wünscht sich alternative Darstellungen, weil sie nicht mitansehen will, wie ihre Mutter beim Anblick der toten Jane zusammensackt. Und weil ihre diese selbst vielleicht andere Rollen vermittelt hätten. Zugleich ist sie so klug zu wissen, dass schon in der Lust an der Erkenntnis, ob vor Gericht oder bei sich selbst, ein Moment der Überschreitung steckt. (Dominik Kamalzadeh, 16.4.2020)