Kurz' Motto "Probieren kann man's ja" stößt auf vielerlei Kritik.
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Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat viel Kritik für seine lapidaren Aussagen zur Verfassungskonformität des Regierungshandelns in der Corona-Krise geerntet. Nicht nur die Opposition, auch Rechtsexperten äußerten Besorgnis über die Andeutung, dass im Zweifel Geschwindigkeit vor juristischer Sorgfalt gehe.

Nun könnte man einwenden, Kurz habe in diesem Fall einfach etwas unglücklich formuliert. Aber die Aussage des Kanzlers passt in ein schon länger sichtbares Verhaltensmuster, wonach verfassungs- und europarechtliche Grenzen dazu da sind, ausgereizt und – im Bedarfsfall – überschritten zu werden.

Als etwa der Verfassungsgerichtshof 2018 restriktive Regelungen der Mindestsicherung in Niederösterreich und im Burgenland aufhob, war das kein Grund für Kurz und seinen damaligen Koalitionspartner, die FPÖ, nicht im Folgejahr ähnliche Regelungen per Grundsatzgesetz bundesweit vorzugeben. Prompt folgte Ende 2019 die Aufhebung zentraler Bestimmungen der "Sozialhilfe neu" durch den VfGH.

Bei der Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger 2018 warnte sogar der Verfassungsdienst im ÖVP-geführten Justizministerium, dass die neuen Weisungsbefugnisse für die Sozialministerin verfassungsrechtlich wohl nicht halten würden. Türkis-Blau hielt dennoch daran fest, der VfGH musste wieder ausrücken.

Vieles deutet zudem darauf hin, dass auch das noch aus türkis-blauer Zeit anhängige EU-Vertragsverletzungsverfahren zur Indexierung der Familienbeihilfe ähnlich ausgehen wird, sollte es mangels Einlenkens von österreichischer Seite bis vor den Europäischen Gerichtshof kommen.

Dass der Kanzler zeitweise den Eindruck vermittelt, Verfassungskonformität sei nicht viel mehr als "nice to have", ist aber nicht nur in sich problematisch, es verkennt auch die Tatsache, dass der VfGH einer der wichtigsten Vetospieler im politischen System ist.

Über die Jahrzehnte hat seine Bedeutung noch deutlich zugenommen: Nicht nur die jährliche Zahl der Verfahren hat sich von wenigen hundert bis in die 1970er auf mehrere tausend seit Anfang der 1990er erhöht, es wurden auch Zuständigkeiten ausgeweitet. Zuletzt kam etwa die "Schiedsrichterfunktion" für parlamentarische Untersuchungsausschüsse hinzu.

Seit den 1970ern und 1980ern dürfen zudem qualifizierte Minderheiten im Nationalrat, Bundesrat und in manchen Landtagen (je nach Landesverfassung) eine Gesetzesprüfung beim VfGH beantragen – ein Instrument, das seit 2000 immer wieder mit Erfolg angewendet wird (davor verfügte die Opposition auf Bundesebene nur selten über die notwendigen Sitze). Außerdem hat die zunehmend "aktivistische" Judikatur des VfGH selbst zu seinem Bedeutungszuwachs beigetragen.

Die Grafik unten zeigt, wie sich der Umfang der Regelungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundes-Verfassungsgesetz zwischen 1950 und 2020 verändert hat. Nahmen die Artikel 137 bis 148 des B-VG im Jahr 1950 noch weniger als 2.000 Wörter ein, so sind es heute knapp 4.000.

Natürlich ist das nur ein sehr grober Indikator für die Wichtigkeit des VfGH. Aber zusammen mit den steigenden Fallzahlen, den Kompetenzzuwächsen, den erweiterten Anrufungsrechten und der aktivistischeren Rechtsprechung ergibt sich ein klares Bild: Der VfGH ist heute nicht nur oberster Verfassungshüter der Republik, sondern einer der wirkmächtigsten Akteure im politischen System Österreichs.

Nachdem die Bundesregierung in den letzten Wochen die schärfsten grundrechtlichen Einschnitte in der Zweiten Republik vorgenommen hat, wäre es mehr als verwunderlich, wenn die Verfassungsrichter nicht früher oder später damit befasst sein würden. Dem Kanzler mag heute also vielleicht egal sein, was der Verfassungsgerichtshof in einigen Monate in puncto Corona-Regelungen tun wird. Umgekehrt gilt das sicher nicht. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 16.4.2020)