Gibt es den "richtigen" Abstand zwischen Nähe und Distanz?

Foto: Bogomir Doringer

Gibt es ein "richtiges" Verhältnis zwischen Abstand und Nähe im Berufs- und Privatleben? Aus der Literatur zu diesem Dilemma ließe sich mittlerweile eine beachtliche Bücherbrücke zwischen jenen bauen, die Kontakt suchen und solchen, die Distanz wollen. In unseren Zeiten des notgedrungenen Abstandhaltens gewinnt der Konflikt schärfere Konturen. In der Art, wie getanzt wird – derzeit allein zu Hause –, können seine kulturellen und politischen Dimensionen direkt körperlich erfahren werden.

Ein politischer Gradmesser ist das Tanzen seit jeher. In einigen Gebieten des spätmittelalterlichen Deutschlands etwa begannen Leute ohne erkennbaren Anlass auf den Straßen zu tanzen, bis sie umfielen. Diese Ausbrüche einer sogenannten "Tanzwut" werden mit "Epidemien" verglichen und gelten als Eruptionen einer körperlichen Abwehr von politischen Zwängen. Was damals unkontrolliert passierte, wird heute als domestizierte Ekstase in Clubs oder bei Partys zelebriert.

Den Tanz auf Distanz hielten historisch nicht nur die Kirche, wie neuere Forschungen belegen, sondern vor allem weltliche Machthaber. Streng ging’s bei uns bis in die 1950-er Jahre zu, als die meisten Tanzlokale noch dekretierten: "Getrennt tanzen verboten." In Tanzcafés, beim Gschnas und auf Bällen herrschte Heiratsmarktstimmung, die Paartanzrituale waren traditionsbewusst reguliert.

Da schleift der Ferdinand die Mitzi noch aufs Parkett

Dann kam, was Gerhard Bronner 1952 in seinem "Gschupften Ferdl" so schön auf die Schaufel genommen hat. Der Galopp vom "gstampften Jitterbug" beim "Thumser draußt in Neulerchenfeld" bis zum Rock’n’Roll-Tanz war zwar ein kurzer, bereitete aber einen Paradigmenwechsel vor: Bei der Tanzschul-Perfektion "schleift der Ferdinand die Mitzi" noch "aufs Parkett", doch als der Rock’n’Roll den Nachkriegs-Youngsters in die Glieder fuhr, kam Luft zwischen die Tanzpaare.

Mit den Auftritten der Beatles brach wieder eine Art Tanzwut aus: Die Teens der Sixities gerieten außer sich. Die anschließende sexuelle Revolution sprang mit konsequentem Abstandnehmen beim Tanzen einher. Das brachte nicht nur mehr Freiheit bei der Wahl von Partnern, sondern auch in der Bewegung zur Musik. Man konnte nun auch ohne die obligaten Kurse tanzen, in denen es um Benimmregeln, Anpassung und Kontrolle von Frauen gegangen war.

Aus den Tanzcafés wurden Discos. Ins Miteinander zu zweit schob sich ein Abstand, während die Einzelschunkler auf den Tanzflächen immer dichter aneinanderdrängten. Sager wie "wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" leiteten – vor allem für Frauen – einen neuen Zwang ein: den der permanenten sexuellen Verfügbarkeit.

Distanzlosigkeit im global village

Das Verfügbarkeitsprinzip drängte zunehmend aus dem Vergnügen hinaus in die Arbeitswelt. Im Nach-Achtundsechziger-Konsumparadies wurden die Einzeltänzer zu Einzelkämpfern. Dieser Druck wurde durch anschwellende Distanzlosigkeit, Exhibitionismus und Voyeurismus, kompensiert. Gerne griffen viele Medien den Trend auf: Sie rückten näher an die Objekte ihrer Berichterstattung heran, in Close-ups von Gesichtern und Körpern, Geschichten und Interviews. Das machte den Journalismus subjektiver, und aus der Protestkultur wucherte ein global-industrieller Unterhaltungs-Strip, der Nähe versprach und Distanz förderte.

Immer dringlicher wurde das Bedürfnis nach nutzbarer Intimität: erst über das Schlagwort "Vernetzung", danach über den Lockruf der "Beteiligung". Dieser Drang trug auch zum Erfolg des Internet und der sozialen Medien bei. Im "global village" wuchs er sich allerdings zum Systemfehler aus: Die Distanzlosigkeit der Einzeltänzer hinter ihren Bildschirmen hat auch zur aktuellen Manipulations- und Hasskultur geführt.

Indes begannen Performer und Tänzer in den Theatern, dem Publikum an die Wäsche zu gehen. Die "vierte Wand" zum Zuschauerraum wurde durchbrochen, das Konzept des "Mitmachtheaters" aus den 1970-ern exhumiert und über "Partizipation" in die Einbettung der Zuschauer in das Geschehen geführt. Dieser Zweig der darstellenden Kunst führt zurück ins Ritual. Ähnlich archaisch muten in den von martialischen Doormen bewachten Clubs die tanzenden Mengen an, wenn sie, von distanzierten DJ-Priestern gelenkt, wenigstens ein Surrogat von Gemeinsamkeit spüren wollen.

Was daraus folgt? Das temporäre Distanzgebot könnte zu neuen Ansichten über Nähe und Abstand führen. Auf kommerziellen und politischen Missbrauch der Sehnsucht nach Nähe zu verzichten, wäre schon ein erster Schritt. (Helmut Ploebst, 17.4.2020)