Das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, zwingt betagte Menschen, sich in ihren Wohnungen zu verschanzen. Dem gesellschaftlichen Bild des Alters fügt das großen Schaden zu.

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Wien/Berlin -In Deutschland ist die Diskussion über den Umgang mit Coronavirus-Risikogruppen in aller Härte entbrannt. Ist es legitim, Menschen mit Vorerkrankungen sowie die ältere Generation stärkeren Einschränkungen auszusetzen als den Rest der Bevölkerung? Das wurde etwa vergangenes Wochenende in der Süddeutschen Zeitung in einem Artikel gefragt.

Ja, antwortete der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, Grüne. "Ich halte es für vertretbar, bei Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen eigene Quarantäneanordnungen auszusprechen", wurde er zitiert.

Ströbele will sofort klagen

Immerhin trügen Alte ein statistisch betrachtet überdurchschnittliches Risiko, schwer an der neuen Lungenseuche zu erkranken – und könnten das Gesundheitswesen dadurch rasch überlasten.

Das brachte den 80-jährigen grünen Ex-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele in Harnisch: "Wenn sie die Alten und chronisch Kranken separieren, bin ich am nächsten Tag beim Bundesverfassungsgericht und klage", kündigte er an.

Individueller Zustand mit zu beachten

Wie aber wären Gruppenquarantäneüberlegungen im Lichte des österreichischer Rechts einzuschätzen? Ein Ausgangsverbot für alte oder vorerkrankte Menschen wäre "unverhältnismäßig, überschießend" und daher diskriminierend, sagt der Verfassungsrechtsexperte Bernd-Christian Funk im Standard-Gespräch: "Eine Regelung, die derlei generell vorsieht, also ohne Rücksicht auf den individuellen Gesundheitszustand, ist nicht zulässig".

Akzeptabel hingegen wären "Empfehlungen", etwa für eigene Einkaufszeiten Älterer und Vorerkrankter im Supermarkt oder "dass alte Menschen Auslandsreisen vorerst unterlassen sollten", sagt Funk. Derlei offizielle Ratschläge würden auch dem durch das Coronavirus veränderten "rechtlichen Setting" entsprechen. Die mitentscheidende Frage sei nun immer: je gefährlicher die Situation, desto wichtiger Prävention und Schutz.

Erhöhtes Risiko als Stigma

Dem Status und Stand der gefährdeten Gruppen in der Gesellschaft tue das jedoch nichts Gutes, meint dazu der Soziologe und Gerontologe Franz Kolland. Die Risikogruppendiskussion etikettiere und stigmatisiere Ältere und Vorerkrankte, auch wenn sie mit dem Argument notwendigen Schutzes daherkomme.

Von dort sei es dann oft nicht weit zu "Überlegungen, die einer sozialen Eugenik aus gesundheitspolitischen Gründen" gleichkämen, fügt dem Mitchell Ash, emeritierter Historiker an der Universität Wien, hinzu.

Taxigutscheine als zweischneidiges Schwert

Doch auch gutgemeinte Aktionen wie das Verteilen von Taxigutscheinen an alle Wienerinnen und Wiener über 65 Jahre sind laut Kolland ein zweischneidiges Schwert. Immerhin habe es jahrzehntelanger Anstrengungen bedurft, um von dem lange vorherrschenden Bild Älterer und behinderter Personen als ausschließlich gebrechlich und schwach wegzukommen.

Nun sei dieser Fortschritt vielleicht am Kippen – etwa im ohnehin schmalen Arbeitsmarkt für Menschen zwischen 50 und 65 Jahren. Das bereits in dieser Altersgruppe steigende Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung werde hier "wie eine Zusatzerschwernis wirken", sagt der Soziologe – etwa auch, was Bemühungen angehe, das Pensionsantrittsalter in Österreich zu erhöhen.

Zerstörerische Wohnungsisolation

Alte Menschen in langanhaltender Wohnungsisolation wiederum hätten mit körperlichen und psychischen Schäden zu rechnen. – etwa mit Immundefiziten oder steigendem Demenzrisiko aus Mangel an sozialen Kontakten. Bei sozial schwachen, alleinlebenden Menschen in Wohnungen ohne Terrasse, Balkon oder Zugang zu sonstigen Freiräumen könne das "zu massiven Folgen führen". (Irene Brickner, 16.4.2020)