"Ein paar Dinge werden nach der Krise entscheidend sein: gerechte Verteilung der Lasten, Sozialstaat, Umweltschutz", sagt Martin Grubinger. Der Schlagzeuger engagiert sich auch für die Idee der Vereinigten Staaten von Europa.

Simon Pauly

Für jemanden, der die Schlagzeug-Sticks schneller zieht als sein eigener Schatten, war der kulturelle Lockdown nicht einfach: Percussion-Weltstar Martin Grubinger gibt zu, dass der "abrupte Stopp auf null innerhalb weniger Stunden" auch für ihn "belastend" war. Die Krise schärft aber auch sein politisches Bewusstsein – für eine Neudefinierung des globalen Kulturbetriebs, für die blinden Flecken der heimischen Regierung und dafür, wofür er sich seit Jahren als Aktivist einsetzt: Vereinigte Staaten von Europa.

STANDARD: Man dachte eigentlich, das Veranstaltungsverbot würde die Kulturbranche stilllegen. Nun geht das Netz aber über mit Kunst. Zeigt sich jetzt die Hyperaktivität des globalen Kulturgeschehens?

Grubinger: Ja, da ist derzeit viel Energie in der Szene, die einfach raus möchte. Raus muss! Die globalisierte Kulturwelt muss sich aber hinterfragen – und ich mich damit selbst auch. Drei provokante Fragen dazu: Braucht es beispielsweise ein amerikanisches Orchester, um in Wien mit 200 Personen eine Mahler-Sinfonie zum Besten zu geben, wo doch die Orchester vor Ort diesen Auftrag erfüllen? Müssen Festivals tatsächlich wie globale Unternehmen um ihr Publikum buhlen, oder sollten wir wieder viel mehr den so wichtigen regionalen Charakter betonen? Muss ich als Schlagzeuger in Santiago de Chile ein Konzert uraufführen, wenn es vor Ort auch Musiker gibt, die dieser Musik zum Durchbruch verhelfen?

STANDARD: Früher hätte man gesagt, die Kunst braucht Einflüsse aus aller Welt.

Grubinger: Natürlich leben wir Künstler von der internationalen Vernetztheit. Wir brauchen die globalen Einflüsse, um uns zu inspirieren. Neue Ideen, neue Kollaborationen entstehen daraus. Aber jetzt ist auch der Moment, alles neu zu hinterfragen. Repertoire, Projekte, Tourplanung et cetera.

STANDARD: Sie waren ein Kritiker von Türkis-Blau. Wie beurteilen Sie jetzt Sebastian Kurz' Performance in der Corona-Krise? Hat er zum Christlich-Sozialen zurückgefunden? Leben retten vor Wirtschaft schützen? Oder agiert er selektiv, Stichwort Flüchtlingskrise.

Grubinger: Die Regierung hat ihren Job gemacht. Bei der Angelobung heißt es, "die Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen". Das hat die Regierung getan. Dafür ist sie da – dafür haben wir sie gewählt. In den zentralen Fragen habe ich gänzlich andere Vorstellungen als Sebastian Kurz. Wie definiert man Leistung? Sind das die Leistungsträger, die uns heldenhaft in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Supermärkten etc. durch diese Krise geführt haben, oder die Pierers und die Seilbahner der Tiroler Adlerrunde, die berühmten Kurz-Spender? Lebt man wirklich Mitmenschlichkeit und christlich-soziales Gedankengut, oder lässt man Kinder im griechischen Moria im Dreck sitzen, während man zu Ostern irgendwas von Auferstehung faselt? Recht und Gerechtigkeit, Humanismus und Würde, Leistung und Sozialstaat. Da verbindet mich mit dem Kanzler ganz wenig.

STANDARD: Sie bekennen sich ja zur Sozialdemokratie, in Krisen gewinnen aber meistens rechte Kräfte. Woran liegt das?

Grubinger: Das muss ja nicht in Stein gemeißelt sein. Ein paar Dinge werden nach der Krise entscheidend sein: gerechte Verteilung der Lasten, Sozialstaat, neue Definition von Leistung, die damit verbundene Frage von Umweltschutz und Nachhaltigkeit und der Schutz von Demokratie, Medienfreiheit, Rechtsstaat. Denn der Bundeskanzler zeigt, nicht ganz überraschend, eine Neigung zu totalitärem Gedankengut. Wer also jetzt die Weichen stellt, kann danach mit neuer Programmatik und offensiver Kommunikation in die Vollen gehen.

STANDARD: Glauben Sie wirklich, Kurz nützt die Krise zur Machtausweitung?

Grubinger: Ich bitte, mich da nicht falsch zu interpretieren. Ich stelle fest, dass der Bundeskanzler weder zu den Ermächtigungsgesetzen in Ungarn noch zur massiven Einschränkung polnischer Gerichte etwas sagen wollte. Dass er es für eher zweitrangig hält, ob die Covid-19-Verordnungen verfassungsrechtlich wasserdicht sind, nährt meinen Verdacht, dass ihm daran wenig liegt. Gerade in Krisenzeiten müssen die obersten Vertreter des Staates den Rechtsstaat wie eine zerbrechliche Vase behandeln. Da vermisse ich Sensibilität und Augenmaß.

STANDARD: Die Nationalstaaten lähmen die EU in der Pandemie. Sie selbst treten für Vereinigte Staaten von Europa mit föderalen Regionen ein. Die alten Nationen sollen absterben. Viele europäische Länder sind aber verspätete Nationen, auch die österreichische ist erst seit etwa 40 Jahren wirklich gefestigt. Überfordern Sie die Menschen nicht mit einer neuen Supernation Europa?

Grubinger: Klar, wir können schon so weitermachen. Aber wenn wir uns nicht schnellstens neu aufstellen und als globaler Player agieren, dann schicken uns die Chinesen weiterhin kaputte Schutzmasken, weil wir selbst zu wenige produziert haben und im vergangenen Jänner nicht auf die Experten in Brüssel gehört haben. Die Amerikaner kontrollieren über das Silicon Valley unseren Digitalverkehr. Russland spielt mit uns im Nahen Osten Pingpong und tritt unsere Werte mit Füßen, und Erdogan erpresst uns, wann immer er Geld braucht oder politische Ziele verfolgt. Die Alternative sind die Vereinigten Staaten von Europa. Die einzige weltweite Idee, die humanistische Grundwerte, kulturelle Vielfalt, Marktwirtschaft, Sozialstaat, Rechtsstaat, Pressefreiheit und vieles mehr in sich trägt.

STANDARD: Große Zentralstaaten bekommen meist ein Legitimitätsproblem, je weiter sich Regierende von den Regierten entfernen. Ein Koch aus Neapel vertraut vielleicht nicht einmal seiner Regierung in Rom, jener in Brüssel, die zudem nicht seine Sprache spricht, soll er aber folgen?

Grubinger: Wir haben dem Koch aus Neapel ja noch nicht bewiesen, dass wir als Europäer für ihn da sind. Der Koch aber glaubt an die europäischen Grundwerte, wenn sie sein soziales Umfeld spürbar besser machen, er glaubt an die europäische Armee, wenn diese beim nächsten Erdbeben in Italien seine Landsleute aus dem Schutt zieht, ihn fasziniert die europäische Geschichte in Kunst, Kultur und Kulinarik. Er weiß, dass er, sollte das Gesundheitssystem in seiner Umgebung überlastet sein, sofort in Innsbruck behandelt wird, seine europäische Gewerkschaft erkämpft jährlich seinen Lohn, seine Arbeitsrechte sind europaweit unteilbar gesichert, und am Ende liebt er einfach auch Beethoven und kriegt die Ganslhaut, wenn er unsere europäische Hymne hört.

STANDARD: Die EU kennt 23 verschiedene Amtssprachen, da ist es ein weiter Weg zur gemeinsamen kulturellen Identität, die sich nun einmal stark über Sprache definiert.

Grubinger: Ach, die Generationen nach mir sind da schon viel weiter. Wir Europäer werden neue Wege definieren müssen. Nicht die alten Denkmuster, die ausschließlich dem freien Markt dienen sollten. Der ist gut und war damals ein großer Schritt. Aber das greift viel zu kurz. Und jene, die nur daran wirklich interessiert waren, merken jetzt, dass allein mit diesen Grundsätzen niemand zu begeistern ist. Gleichzeitig haben wir die emotionale Komponente völlig vernachlässigt. Es sollte eine ganz neue Architektur geben. Mit jenen, die das inhaltlich, politisch und gesellschaftlich wirklich wollen. Die Alternative ist ja eine generelle Unterwerfung vor China, den USA, Russland, Indien etc. in allen wichtigen Bereichen. Jene Länder in Europa, die das wollen, sollen dann mit Orbán und der polnischen Pis-Partei weiterwursteln.

STANDARD: Die Polizei hat in der Corona-Krise Gemeindebauten mit "I am from Austria" beschallt, und die Leute haben applaudiert. Hätten Sie die Europahymne gespielt?

Grubinger: Ich hätte die Bundeshymne gespielt, dann I am from Austria, gefolgt von der Europahymne und als Zugabe Hoamatland – die Landeshymne meiner Heimat Oberösterreich. Und nachdem ich meist zwei Zugaben spiele, hätte ich auch noch ein Werk von Friedrich Cerha hinzugefügt. (Stefan Weiss, 17.4.2020)