Leider hat das Flanieren unter König Corona seinen unbeschwerten Charakter verloren.

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So viel Zeit, die eigenen vier Wände und ihr harmonisches Zusammenspiel zu betrachten, war noch nie. Manchmal hat man aber doch das Gefühl, es sei zu viel des Guten, und jede Wand für sich genommen hängt einem meterweise zum Hals heraus. Überdruss, Langeweile, der Ennui, wie Baudelaire sagen würde, oder die Acedia, das Nichtsmachenwollen, wie es in der katholischen Morallehre heißt, legen sich wie Mehltau über den Geist. Jetzt wird es Zeit zu flanieren.

Leider hat das Flanieren unter König Corona seinen unbeschwerten Charakter verloren. Die französischen Freigeister des 19. Jahrhunderts begriffen das Flanieren durchaus auch als Provokation für das arbeitende, auf Gelderwerb angewiesene Volk, dem sie lustvoll die Wonnen des Müßiggangs vor Augen führten. Heute hat das Flanieren etwas Zwanghaftes. Man muss es tun, weil einem sonst zu Hause die Decke auf den Kopf fällt.

Wie ein Besessener

Ich flaniere seit Wochen wie ein Besessener und durchquere die Stadt ohn’ Unterlass weit über meinen Wohnbezirk hinaus. Im Bestreben, neue Wege zu betreten, habe ich Straßen und Sträßchen entdeckt, von deren Existenz ich nichts wusste, obwohl sie sich ganz in der Nähe befinden. Diese Entdeckerfreude finde ich großartig.

Weniger großartig finde ich die auf den Trottoirs vorbeischnaubenden Jogger, die beim Ausleben ihres – verständlichen – Bewegungsdrangs Aerosolwolken in die Luft speien, auf denen sich, wie auf fliegenden Miniaturteppichen, Myriaden von grindigen Bakterien und Viren tummeln. Unangenehm.

Noch lange nicht Schluss

Zudem leidet der Flaneur daran, dass die Wirtshäuser als Nottoiletten ausfallen. Alle geschlossen, wenn sich der Harndrang meldet, und das nächste öffentliche Klo ist meilenweit entfernt. Auch diese Konstellation ist unangenehm.

Schließlich kann man nicht unbeschwert in aller Öffentlichkeit auf dem Hernalser Gürtel oder in der Kärntner Straße seinen Kaspar schnäuzen. Selbst wenn man allein und vorschriftsgemäß mit Gesichtsmaske harnt, würde die Polizei wohl kein Auge zudrücken.

Ist Entspannung in Sicht? Kaum. Der Epidemiologe Marc Lipsitch (Harvard) prognostiziert in einer neuen Studie, dass "Social Distancing" bis mindestens 2022 nötig sein wird, um Corona zu bezwingen. Sieht ganz so aus, als wäre mit dem Zwangsflanieren noch lang nicht Schluss. (Christoph Winder, 18.4.2020)