Sibylle Bergs Werk umfasst 25 Stücke und 15 Romane, ihr aktueller Roman "GRM Brainfuck" wurde mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

Foto: Katharina Lütscher

STANDARD: Ihr aktuelles Buch "Nerds retten die Welt" versammelt 17 Interviews mit Wissenschafterinnen und Wissenschaftern über den Zustand der Welt. Es erschien kurz vor Ausbruch der Corona-Krise. Jedes dieser Gespräche beginnt mit der Frage: Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt? Das möchte ich Sie zu Beginn auch fragen!

Sibylle Berg: Besorgtheit ist erst einmal ein guter Zustand, der einen sorgsam sein lässt. Man muss einfach Obacht geben, dass das Ganze nicht in eine Lähmung oder Panik umschlägt, denn der Welt sind meine Sorgen ja vollkommen egal. Ich habe bereits vor der Pandemie erstaunt beobachtet, was der weltumarmende, immer mehr ins Neoliberale kippende Kapitalismus so mit der Menschheit anstellt, und besser geworden ist es ja nicht. Im Moment ist die Lage nicht besonders originell. Jedes Land riegelt sich ab und versucht, ein globales Problem national zu lösen. Und die ersten Banken und Großunternehmen, Milliardäre und Konzerne stehen schon wieder parat, um ihre Dividenden von der Allgemeinheit retten zu lassen. Nichts Neues also, nur dass es viele Kleinunternehmer und Selbstständige vom Markt wischen wird, durch eine Krise, die natürlich auch wieder ein negativer Effekt der Globalisierung ist. Zugleich greift in einigen westlichen Ländern so eine zufrieden schnurrende gesellschaftliche Demokratie-Romantik um sich. Viele freuen sich über den wunderbar funktionierenden Staat, dessen Politik der Einsparung und mangelnden Vorsorge natürlich leider ein Teil des Problems war, der uns nun zufrieden die komplette Abschaffung aller freiheitlicher Rechte ertragen lässt.

STANDARD: Vor kurzem haben Sie getwittert: Wie lange halten wir das noch aus? Haben Sie selbst eine Antwort darauf?

Berg: Nun, nicht mehr lange, denke ich. Bereits nach einer Woche blätterte die Solidarität, die aus Balkonkonzerten und Einkaufsdienst für Risikogruppen bestand, und die Gesellschaft diskutierte allen Ernstes zunehmend über eine Selektion von Menschen, wenn die Plätze in der Intensivmedizin knapp würden. Also ein durch Sparmaßnahmen in der Medizin, durch Teilprivatisierung und Misswirtschaft selbstgemachtes Problem wird an Pflegende und Ärztinnen ausgelagert und von Großteilen der Gesellschaft unter 45 als naturgegeben hingenommen, als ob es irgendeinen qualitativen Unterschied von Leben gäbe.

STANDARD: In Ihrer "Spiegel"-Kolumne schreiben Sie: Der Kapitalismus und das Belohnungssystem pausieren. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen." Sind Sie nie dankbar für das Innehalten?

Berg: Ich bin dankbar, dass ich in der privilegierten Lage bin, in einer netten Wohnung zu leben, auf Bäume zu schauen und mir noch keine Sorgen um die Nahrung machen zu müssen, aber wem soll ich dafür dankbar sein. Nun ja. Der Rest ist öde, denn ich mag nicht von mir reden. Mein Leben hat sich wenig verändert, es ist schon immer von außen betrachtet langweilig gewesen.

STANDARD: Alle sagen jetzt immer, dass sie endlich Zeit hätten, um Bücher zu lesen. Dabei hängen alle ständig an ihren Endgeräten, machen Videokonferenzen, machen Houseparty oder schauen Netflix. Sind wir mit der Corona-Pandemie endgültig in der Fern- und Digitalgesellschaft gelandet?

Berg: Das nehme ich zum einen so nicht wahr, weil die Menschen, die ich in den sozialen Medien beobachte – zugegeben, es ist nur eine kleine Auswahl der Gesellschaft –, lesen gerade wie wild. Sie wälzen sich mit großer Freude am Untergang durch mein dickes GRM Buch und die Nerds. Aber zum Rest der Frage: Wir sind bereits eine Digitalgesellschaft, und das ist auch vollkommen in Ordnung. Ich glaube nicht, dass Bücher verschwinden werden, und wenn weniger gelesen wird, muss sich die Buchwirtschaft an den Umstand anpassen. Im Moment merken alle, wie unglaublich dumm es war, als Vertriebsweg so stark auf Amazon zu setzen, die jetzt keine Bücher mehr verkaufen und lange Lieferfristen haben, weil mit anderen Produkten eine höhere Marge zu erwirtschaften ist. Vielleicht startet der deutschsprachige Markt endlich eine gemeinschaftliche Alternative zu Bezoz’ Suckerplattform.

STANDARD: Sie haben sich für die Charta der digitalen Grundrechte der EU starkgemacht. Sind Tracking-Apps, wie sie in China, siehe Citizen Score, schon Realität sind und bei uns gerade sehr konkret angedacht werden, eine Gefahr für den Datenschutz und unsere Grundrechte oder nur ein Weg, wieder aus dem Pandemie-Schlamassel rauszukommen?

Berg: Zum einen ist die Überwachung ja auch in Europa bereits Realität. Ich weiß nicht, was der Stand in Österreich ist, weitgehend sind aber unsere Großstädte bereits mit biometrischen Kameras überwacht, das heißt: Gesichtserkennung. Die Nutzung von Smartphones bedeutet nichts anderes, als dass man ein tragbares Überwachungsgerät bei sich hat, und in einigen Ländern ist die Installation staatlicher Trojaner bereits ohne Gerichtsbeschluss erlaubt. Kurz gesagt: Wir sind bereits überwacht, und ich sehe eigentlich außer der Nichtnutzung netzfähiger Endgeräte keinen Freiraum mehr für die Privatsphäre, die einmal ein Menschenrecht war. In der relativen Panik und dem Wunsch nach klaren Anweisungen im Moment liegt natürlich eine große Gefahr für die Demokratie, die auf der einen Seite gerade an Beliebtheit gewinnt, weil Populisten und Diktatoren versagen und auch der Neoliberalismus, den sie vertreten, uns die Situation, wie sie gerade ist, erst eingebrockt hat. Auf der anderen Seite wird sich keine Regierung der Welt gegen eine Möglichkeit der Kontrolle wehren, wenn sie so einfach umzusetzen ist wie gerade in Krisenzeiten. Der letzte große Einsatz von Überwachungstechnik für "unsere Sicherheit" erfolgte ja unter der Überschrift Terrorismus. Meine Befürchtung ist: Es gibt kaum einen Ausweg. Aktivistinnen und Aktivisten haben oft nicht die finanziellen Mittel, um gute Verschlüsselungstools und Open-Source-Produkte zu erstellen, und wie ausgeliefert wir selbst dem freundlichsten System sind, merken wir gerade. Vielleicht wird es ohne eine Tracking-App keinen Zutritt zu Supermärkten mehr geben. Ein Ausweg könnte nur sein, wenn diese Überwachungs-Apps mithilfe von Aktivisten erstellt werden.

STANDARD: Wird Corona die bargeldlose Zahlung pushen?

Berg: Ja.

STANDARD: Im Buch sprechen Sie noch viel vom "gefühlten Weltuntergang", weil es der Welt de facto noch nie so gut wie heute gegangen ist. Mit Corona haben sich einige Dystopien konkretisiert. Gibt es noch Hoffnung?

Berg: Eben, darum das Gefühlte. Ich glaube, jede Generation war sich sicher, in der schrecklichsten aller Zeiten zu leben. Negatives, Angst, Wut sind einfach die einprägsameren Gefühle als etwas Leiseres wie Zufriedenheit. Alles ändert sich, und das ist beunruhigend, weil die meisten Menschen ungern mit Gewohntem brechen. Gerade jetzt sind wir auf der Stufe der digitalen Umwälzung fast aller gesellschaftlichen Prozesse, die Entwicklungen beschleunigen sich exponentiell, im Positiven wie im Negativen. Die Überforderung lässt viele Menschen vergessen, dass wir im globalen Norden meist über Wohnung, Nahrung, Gesundheitsvorsorge verfügen. Und wir leben in demokratischen Systemen, in die sich jeder einbringen kann, wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, Hasspostings abzusetzen.

STANDARD: Sie haben für die Interviews mit unterschiedlichsten Expertinnen und Experten gesprochen, u. a. aus der Neuropsychologie, Systembiologie, Meeresökologie oder Konflikt- und Gewaltforschung. Fallen Ihnen auf die Schnelle drei Verbesserungsvorschläge aus diesen Gesprächen ein, welche die Welt im Moment gut gebrauchen könnte? Kurzum: Was taugt jetzt zur Rettung der Menschheit?

Berg: Was mir einleuchtet, ist ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine direktere Art der Demokratie, die vielleicht nicht mehr mit den großen Altparteien zu tun hat, sondern mit Expertinnen und Experten und mehr Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung in den Gemeinden. Zentralisierte Open-Source-basierte Plattformen für den weltweiten Austausch von Wissen, dem Warnen vor Gefahren. Es gibt aber nicht nur drei gute Konzepte, sondern tausende, die wirklich dazu taugen, die Menschheit durch diverse Krisen zu führen. Das Problem besteht darin, dass die Regierungen sehr selten auf Wissenschafterinnen und Wissenschafter hören oder dass die wirtschaftlichen Interessen stärker sind als wissenschaftliche Fakten.

STANDARD: Im Buch ist auch von einem Szenario-Denken die Rede. Haben Sie ein ähnliches Szenario, wie wir es jetzt mit Corona haben, jemals angedacht?

Berg: Erstaunlicherweise hatte ich für mein letztes Buch GRM Brainfuck zuerst an den Ausbruch eines Virus gedacht, der der Einführung der digitalen Diktatur dient. Das was mir allerdings dann zu platt, und so verschwand der tolle Virus in eine Nebenhandlung. Ich fand die Freiwilligkeit der Menschen, sich in eine Diktatur zu fügen, durch eine durch ein Grundeinkommen getriggerte Bereitwilligkeit interessanter.

STANDARD: Womit verbringen Sie im Moment Ihre Tage?

Berg: Mein täglicher Ablauf hat sich kaum verändert. Ich stehe jeden Tag sehr früh auf und arbeite ab circa sieben bis achtzehn Uhr. Was wegfällt, sind meine Shows am Schauspielhaus Zürich, die ich gerade alle zwei Monate inszeniert hatte, und natürlich alle meine Theateraufführungen. Dass mein neues Buch in einer Zeit herauskommt, in der alle Buchläden geschlossen sind, und Amazon die Auslieferung von Büchern an letzte Interessenstelle geschoben hat. Fuck Amazon! Aber mit den Umständen bin ich nicht alleine. Und natürlich sind die kleinen Belohnungen im Arbeitsalltag weggefallen: draußen Tee trinken, Menschen ansehen, oder mal essen gehen. Ich habe Glück, dass ich seit langem so lebe, dass mir wohl ist und sich wenig daran geändert hat, außer einem Dauerton von Sorgen, der in der Luft zu stehen scheint.

STANDARD: Ich muss Sie fragen, obwohl Sie diese Frage laut dem Buch selbst nicht mögen: Woran arbeiten Sie im Moment?

Berg: Gerade beende ich ein Stück für das Gorki-Theater, das im Herbst die Saison eröffnen – Achtung! – sollte: ein Musical nach GRM mit vielen Jugendlichen aus UK, das im nächsten Jahr stattfinden – Achtung! – sollte. Danach sitze ich da und starre in den Himmel, falls es den dann noch gibt. (Mia Eidlhuber, 18.4.2020)

Sibylle Berg, "Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen", 22,– Euro / 336 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Berlin 2020
Cover: Kiepenheuer & Witsch