Passfoto von Paul Celan von 1938: Ursprünglich hieß er Paul Antschel, später rumänisiert Ancel, woraus das Anagramm Celan entstand. Am 23. November 2020 wäre er 100 Jahre alt.

Foto: Fotograf unbekannt / gemeinfrei

Am 20. April begeht die literarische Welt Paul Celans fünfzigsten Todestag. Ob es sein wirkliches Todesdatum ist, bleibt ungewiss. "Ohne Worte hat er den Freitod gewählt", sagt Klaus Demus, der Freund seit Jugendtagen. Heute ist er der Letzte, der vom Leben und Sterben des Dichters aus eigener Anschauung und nächster Nähe erzählen kann.

Ich besuche den fast 93-jährigen Kunsthistoriker und Lyriker in seinem Heim. Seine Gesundheit ist fragil, doch sein Geist sprühend. Paul Celans Gedichte hat er früher alle auswendig gewusst. Damals, als er sie zum ersten Mal in der Wiener Literaturzeitschrift Plan liest, eröffnen sie ihm eine neue Welt. "Ich habe gemeint, hier das Höchste zu erblicken, was zu der Zeit in deutscher Sprache produziert wurde."

Klaus Demus, Student der Kunstgeschichte und selbst angehender Lyriker, lernt Paul Celan durch die Vermittlung Ingeborg Bachmanns kennen. Demus’ Verlobte und spätere Ehefrau Nani Maier ist Bachmanns Schulkollegin und trifft sich regelmäßig mit ihr, weil Bachmann die Kafka-Dissertation ihrer Freundin auf der Schreibmaschine abtippt.

Dichterfreundschaft: Paul Celan mit Nani und Klaus Demus.
Foto: Klaus Demus

Paul Celan lebt zu der Zeit als Displaced Person in Wien (als "Displaced Person" bezeichneten die Alliierten Menschen, die nach dem Krieg aus ihrer Heimat fliehen mussten und in einem anderen Land Aufnahme suchten. Häufig handelte es sich wie bei Paul Celan um Zwangsarbeiter aus NS-Lagern Osteuropas, Anm.). Im Herbst 1947 ist er wie tausende jüdische Flüchtlinge aus Rumänien in einem viele Wochen dauernden Fußmarsch, zum Teil von illegalen Schleppern geführt, über Ungarn nach Österreich gekommen. Wien erreicht er kurz vor Weihnachten.

Ich weiß etwas von Grenzen

"Ich glaube, ich weiß etwas von Grenzen – im Dezember 1947 überschritt ich, nachts, über hartgefrorenes Ackerland, ins Slovenisch-Burgenländische eine solche Grenze und landete, nachdem ich alle finster-erzitterten Fenster abgeklopft hatte – im allerletzten Gehöft dieses Dorfes – es hieß Schallendorf."

Celans Ruf als außerordentliches dichterisches Talent eilt ihm voraus. Schnell findet er Eingang in den Kreis um den surrealistischen Maler Edgar Jené, der am Julius-Tandler-Platz in einem bombenbeschädigten Haus sein Atelier hat. Dort trifft sich die gerade erwachte junge Künstlerszene Wiens, es gibt Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen und Lesungen.

Celan schließt Freundschaft mit Jené, zeitweilig wohnt er auch bei ihm. Beide nehmen an der ersten surrealistischen Ausstellung in Wien in der Galerie Agathon teil, Celan liest aus seinen Gedichten. Mit dem Surrealismus ist er bereits aus Bukarest vertraut, für eine kurze Zeit betrachtet er sich selbst als surrealistischen Dichter.

Zusammen mit Edgar Jené gibt er ein surrealistische Pamphlet heraus – von dem er sich später distanziert –, und er verfasst einen Essay über den Maler: Edgar Jené: Der Traum vom Traume. Es ist Paul Celans erste Buchpublikation. Auch ein erster Gedichtband mit zwei Illustrationen Jenés ist im Werden, doch verzögert sich der Druck, weil der Verleger Pleite macht.

Die herzinnigsten Freunde

Der Beginn der Bekanntschaft mit Klaus Demus fällt in die letzten Wochen von Celans Aufenthalt in Wien. "Er konnte damals in dem zonengeteilten Wien nur bestimmte Bezirke betreten, und da haben wir uns im ersten Bezirk im Café Landtmann getroffen.

Er wusste schon von meiner Wertschätzung seiner Gedichte, was ihn sehr gefreut hat." Schon bei der ersten Begegnung kommen sie einander nahe, im folgenden Jahr, als Demus ein Studienjahr in Paris verbringt, vertieft sich ihre Freundschaft. "Er war von Anfang an mein ersehnter Freund, und das wurde er immer mehr, wir waren bis zum Schluss die herzinnigsten Freunde."

Celan ersucht Klaus Demus, sich um das völlig missglückte Projekt Der Sand aus den Urnen zu kümmern. Der vom jungen Dichter heißersehnte erste Gedichtband ist nicht nur finanziell, sondern auch formal und ästhetisch gescheitert, gedruckt auf billigem Papier und voll sinnentstellender Druckfehler.

Celan mit Nani
Foto: Klaus Demus

Die Bilder Jenés sind unpassend, Celan verabscheut sie, er verlangt das Einstampfen der gesamten Auflage. Zu dem Zeitpunkt hat er Wien Richtung Paris verlassen. Der Abschied von Wien ist bitter. Zwar hat er viel Anerkennung erfahren, doch was bleibt unterm Strich? "Ich blieb nicht lange. Ich fand nicht, was ich zu finden gehofft hatte", schreibt Celan später in einem Brief.

Die Liebe zu Ingeborg Bachmann ist gescheitert, wenn sie auch die Beziehung später wieder aufnehmen. Mit Unterbrechungen, Höhen und Tiefen bleiben die beiden beinahe bis ans Ende ihres Lebens in Verbindung. "Ein tragisches Verhältnis", nennt es Klaus Demus. "Sie hat mir schrecklich leidgetan, denn sie war die Misshandelte."

Als Paul Antschel geboren

Paul Celan, 1920 als Paul Antschel in Czernowitz geboren, ist der einzige Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Familie. In der Bukowina existiert damals eine große jüdische Gemeinde, beinahe die Hälfte der Czernowitzer sind Juden. 1941, als die Deutschen in dem Land einfallen, meldet sich Paul Celan noch rechtzeitig zum Arbeitsdienst, während seine Eltern verschleppt und ermordet werden.

Im rumänischen Lager Tabaresti leistet er zwanzig Monate Zwangsarbeit. "In Erdhütten gepfercht, die einen nur sehr geringen Schutz gegen die Unbilden der Witterung gewährten und jeder hygienischen Einrichtung ermangelten, mussten wir schwere physische Arbeit verrichten; darüber hinaus hatten wir unter der sehr harten Behandlung durch das Lagerkommando sowie unter der unzureichenden und unbekömmlichen Verpflegung zu leiden" (zitiert aus Celans eidesstattlicher Erklärung für den Lagerinsassen Maximilian Goldhagen, gerichtet an das Amt für Wiedergutmachung, 1964).

In Wien angekommen, als Staatenloser, der aus dem sowjetischen Einflussbereich geflohen ist, in einer nur halb legalen Lebenssituation, begreift er rasch, dass man hierzulande von einer solchen Vergangenheit nichts hören will.

Klaus Demus erinnert sich, dass Celan kaum über sich und seine Familie gesprochen hat. "Ich wusste, dass er eine gute Erziehung hatte, Sprachen beherrschte, dass er in einem Lager der Nazis die Kriegszeit verbracht hatte und seine Eltern gewaltsam zu Tode gekommen waren. Er sagte, dass er nur mit Glück überlebt hatte."

Unterschiedliche Eindrücke

1952 nimmt Celan an dem Treffen der Gruppe 47 in Niendorf teil. Zu verdanken hatte er seinen Auftritt Ingeborg Bachmann, die ihn "einschleuste", so Demus. "Er hat dort wie jeder der Teilnehmer seine Gedichte vorgelesen. Und einer hat ihm vorgehalten, er habe wie Goebbels gelesen."

Über die Reaktionen auf Celans Vortrag gibt es unterschiedliche Eindrücke, so spricht Hans Weigel von Kollegen, die Celans Tonfall nachäfften: "Schwarze Milch der Frühe ...". Hans Werner Richter, Veranstaltungsleiter der Gruppe 47, kommentiert, Celan habe "in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge". Doch andererseits will der deutsche Rundfunk seine Gedichte, unter ihnen die Todesfuge, senden, und ein Verleger nimmt ihn unter Vertrag.

Mohn und Gedächtnis, in dem auch die Gedichte aus dem eingestampften Wiener Band enthalten sind, erscheint Ende 1952 im Fischer-Verlag. Das Buch macht Celan mit einem Schlag im deutschen Sprachraum bekannt. In den großen deutschen Zeitungen werden die Gedichte besprochen, viele positiv und manche sogar euphorisch, dass hier eine in der deutschen Lyrik bisher ungehörte Stimme erklingt.

Doch daneben gibt es auch kritische und negative Kommentare, in denen von "Etüden und Fingerübungen" die Rede ist, von "glitzernden Arrangements" oder "fürchterlicher Symmetrie".

Haltlose Plagiatsvorwürfe

Die Beachtung, die Celans Werk findet, ruft die Witwe des Dichters Ywan Goll auf den Plan. Claire Goll wendet sich in einem offenen Brief an Presse, Verlage und Autoren, sie verweist auf Parallelstellen und Wortbilder in einem Lyrikband ihres Mannes, der 1951 erschienen ist, und klagt Paul Celan des Plagiats an.

Ihre Vorwürfe erweisen sich als haltlos, doch werden sie von verschiedenen Zeitungen abgedruckt. Obwohl Celan von verschiedenen Autoren und Journalisten verteidigt wird, ja, einige der betreffenden Gedichte Celans sogar vor den Anwürfen publiziert worden sind, ist er tief getroffen und verunsichert.

Das umso mehr, als Claire Goll nicht aufhört, ihre Behauptungen zu wiederholen. Mit jeder Kritik, die sein Werk erlebt, flammt das Gefühl der Bedrohung neuerlich auf. Celan fordert seine Freunde auf, zu ihm zu stehen, öffentlich gegen die ungerechte Behandlung seiner Person zu protestieren. Er schreibt Briefe, appelliert, klagt an. Doch wer immer für ihn eintritt, tut es nicht vorbehaltlos genug.

Die Autorin Susanne Ayoub im Interview mit Klaus Demus.
Foto: Susanne Ayoub

Auf eine seiner Meinung nach unzulässige Interpretation der Todesfuge schreibt er empört an Bachmann: "Du weißt – oder vielmehr Du wusstest es einmal – was ich in der Todesfuge zu sagen versucht habe. Du weißt – nein, Du wusstest – und so muss ich Dich jetzt daran erinnern –, dass die Todesfuge auch das für mich ist, eine Grabschrift und ein Grab.

Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber." Der Kritiker Günter Blöcker rezensierte 1959 Celans dritten Gedichtband Sprachgitter im Berliner Tagespiegel und beschrieb die Todesfuge als ein "graphisches Gebilde ohne sinngebende Bedeutung".

Allgegenwärtiger Antisemitismus

Der allgegenwärtige Antisemitismus jener Jahre wird für Celan unerträglich. Immer mehr zieht er sich zurück, bricht mit vielen, von denen er "die Ehre meiner gemordeten Mutter besudelt" sieht, auch mit Freunden wie Ingeborg Bachmann und ihrem damaligen Partner Max Frisch.

Selbst Klaus Demus, der Celan über Jahre hinweg immer wieder beruhigt und vermittelt, beginnt zu zweifeln. Am 17. Juni 1962 gesteht er ihm schließlich brieflich: "Paul, ich habe den entsetzlichen ganz gewissen Verdacht, dass Du an Paranoia erkrankt bist."

Unverbrüchlich treu glaubt nur mehr seine Frau Gisèle de Lestrange an ihn. Doch auch sie kann schließlich die Zeichen der psychischen Erkrankung nicht übersehen, denn Celan wird gewalttätig gegen sie, gegen sich, bis sie auch das Leben des gemeinsamen Sohns Eric bedroht sieht und Hilfe sucht.

Von 1963 an befindet sich Paul Celan in psychiatrischer Behandlung. "Die Krankheit ist in Schüben aufgetreten, was immer wieder zu Internierungen geführt hat, und zu gewissen Zeiten musste er sich melden, ob sein Zustand behandlungswürdig wäre oder er wieder normal sei."

Klaus Demus ist in dieser Zeit nicht in Kontakt mit seinem Freund. Celan antwortet nicht auf seine Briefe, auf seine Entschuldigung. Wie so viele gehört er nun zum Lager der Feinde. Erst 1968, anlässlich einer beruflichen Reise, die Demus nach Paris führen soll, gelingt es ihm, Celan umzustimmen.

Im März 1969 treffen sie einander, Demus besucht Celan an seinem Arbeitsplatz, der École normale supérieure, wo er seit vielen Jahren unterrichtet und auch nun, trotz seiner Erkrankung, tätig bleibt. "Er war ein bisschen zurückhaltend, sehr ernst und hat wenig gesprochen. Er war noch in psychiatrischer Behandlung und Aufsicht und hat sich auch deshalb befangen geäußert."

Sie scheiden versöhnt

Sie scheiden versöhnt, auch den Briefwechsel – von 1948 bis 1962 standen sie in ständigem Gedankenaustausch – nehmen sie wieder auf. In seinem letzten Brief tröstet Celan seinen Freund, der an seinen dichterischen Fähigkeiten zweifelt: "Mein lieber Klaus, aber natürlich bist Du ein Dichter. Nur: Diese Zeit ist nicht mehr dichterisch ... Du hast soviel Sprache, Klaus – mir kommt die Sprache immer mehr abhanden. Bald werde ich nur mehr mit den Knochen denken können. Ein wenig Übung habe ich schon darin."

Am 19. April 1970 verlässt Paul Celan seine Wohnung in der Avenue Émile Zola, nahe der Seine-Brücke Pont Mirabeau, wo er die letzten zwei Jahre allein gewohnt hat, um nicht mehr zurückzukommen. Vergeblich versucht Gisèle, etwas über seinen Verbleib herauszufinden.

Sie weiß, dass es ihm zuletzt schlecht erging und befürchtet das Schlimmste. Erst nach Wochen bekommt sie die Nachricht. Der Leichnam Paul Celans ist in einem Dorf an der Seine weit unterhalb von Paris angetrieben worden.

Auf Gisèles Wunsch kommt Klaus Demus nach Frankreich. "Sie hat ihn nur an einer Wunde am Körper identifiziert, sein Gesicht war nicht mehr erkenntlich." An der Seite der Ehefrau steht Demus am Grab seines Freundes. Paul Celan wird am 12. Mai 1970 auf dem Friedhof von Thiais begraben. (Susanne Ayoub, 18.4.2020)

Corona
Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, dass man weiß!
Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.
Es ist Zeit.