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Ein Fotodokument aus dem Jahr 1986: der Reaktor in Tschernobyl nach der Explosion am 26. April.

Foto: AP / Volodymyr Repik

Für einen solchen Einstiegssatz würde mancher andere Autor morden. Und in Journalismus-Studiengängen Inskribierte werden sich wohl überlegen, umgehend einen anderen Karriereweg einzuschlagen. "Oberleutnant Alexander Logatschew liebte die Strahlung so wie andere Männer ihre Frauen."

So setzt Adam Higginbothams große, aufwühlende und hochspannende Chronik Mitternacht in Tschernobyl ein. Doch die Strahlung liebte Logatschew nicht so zurück, wie er sich das dachte und wünschte.

Denn am 26. April des Jahres 1986 führte eine verhängnisvolle Kette an Fehlern zum größten anzunehmenden Unfall in der Geschichte der von Menschen entwickelten und betriebenen Atomenergie, zum GAU, zur Kernschmelze in Reaktor 4 des größten Atommeilers der Sowjetunion in Tschernobyl.

Meisterhafter Reporter

Adam Higginbotham, Jahrgang 1968, gebürtiger Brite, schreibt seit langem für große US-amerikanische Magazine wie The New Yorker, GQ, Wired und Smithsonian, die Hauszeitschrift der Smithsonian Institution in Washington, D.C.

In mehr als fünfzehn Jahren hat er mit vielen Personen, darunter nicht wenige, die bereits so krank waren, dass sie wenig später starben, gesprochen, sodass mehr als einhundert Stunden Gesprächsmaterial zusammengekommen sind. Zudem konnte er sich erstmals Zugang zu bis dato nicht ausgewerteten Archivmaterialien verschaffen.

Sein Bericht der Katastrophe von Tschernobyl liest sich erschreckend hinreißend – eine meisterhafte Langreportage. Wobei er sich des dramaturgisch stets etwas heiklen Fly-on-the-Wall-Tricks entschlägt, also Fliege an der Wand zu sein und quasi mit im Raum zu sein, was im Zuge der Bücher des einstigen Watergate-Skandal-Aufdeckers Bob Woodward, der diesen Kunstgriff liebt, in der amerikanischen Presse in Mode gekommen ist.

Man ist zwar auch bei Higginbotham mittendrin. Doch man hat an keiner Stelle das Gefühl, er würde Dialoge literarisch nachstellen. Stattdessen ist man durchweg gebannt, erschrocken. Und am Ende sprachlos. Man liest dieses meisterhafte Buch mit angehaltenem Atem.

Legionen und Lügen

Es ist staunenswert, wie Higginbotham seine Legion an Dramatis Personae, deren kaum überblickbare, mitunter verwirrende Zahl an die Monumentalromane Lew Tolstojs heranreicht, knapp, eindringlich und prägnant zeichnet. Minutiös schildert er nahezu Minute nach Minute an jenem schönen Tag im April. Wie und wieso wer was machte. Oder aus blankem Erschrecken nicht machte und geschockt unterließ.

Wie Fehler sich auf Fehler häufte. Und wie das Ganze solche damals technologisch unvorstellbaren Ausmaße annahm, dass der gesamte Globus in Mitleidenschaft gezogen wurde. Bis heute lassen sich noch immer überhohe radioaktive Werte bei Wildtieren und Waldfrüchten in Europa nachweisen.

Higginbotham erzählt tatsächlich die ganze Geschichte dieses verheerenden Unglücks. Und greift dafür weit aus. Wer weiß schon, dass das Atomkraftwerk, heute auf dem Territorium der Ukraine, einst buchstäblich im Nirgendwo geplant wurde und die daneben gelegene Stadt Pripjat nur aus dem Boden gestampft wurde, um den Arbeiterinnen und Beschäftigten des AKW Obdach und Freizeitmöglichkeiten zu bieten?

Verheerende Konstruktionsfehler

Detailliert zeichnet Higginbotham das Leben in der Sowjetunion zwischen den späten 1950er- und den späten 1980er-Jahren nach, zwischen Chruschtschow und Gorbatschow. Wer weiß schon von den verheerenden Konstruktionsfehlern, die von Anbeginn für diesen AKW-Typ charakteristisch waren – und die im autokratischen Befehlssystem der immer stärker selbstblockierenden, schließlich systemisch sklerotischen Sowjetunion verschwiegen und unterschlagen wurden, sodass die Ingenieure, die am 26. April 1986 verzweifelt und buchstäblich bis zum letzten Atemzug versuchten zu retten, was zu retten war, genau die falschen Initiativen einleiteten, weil nicht das Geringste aus der Nomenklatura der nationalen Atombehörden und Wissenschaftseinrichtungen nach außen gedrungen war.

Und deshalb auch nicht in Manualen niedergeschrieben worden war. Techniker, Hubschrauberpiloten, "Bioroboter", die zwangsrekrutiert wurden, in der allerheißesten Phase Wege freizuräumen, Ehefrauen und Kinder, Politapparatschiks und Bürokraten, Stadtplanerinnen und Feuerwehrleute und Retter – in den Jahren bis 1991 waren rund 600.000 Menschen in die Ab- und Aufräumarbeiten involviert.

Eindringliche Szenen

Dieses Buch wimmelt von eindringlichen, bewegenden Szenen, abwechslungsreichen Charakteren, viele heroisch bis zum späteren frühen Tod, andere rachsüchtig, intrigant und nur darauf bedacht, ihren Status nicht von eigenen Fehlern beeinträchtigen zu lassen und an ihrer statt andere zu beschuldigen.

Vor allem eines zeigt Higginbothams Studie auf: ein System politischer Verschleierungsmanöver, Lügengespinste und Hinterzimmertricks, massiv ideologisch unterfüttert und in der allergrößten Not jämmerlich implodierend. (Alexander Kluy, 20.4.2020)

Adam Higginbotham, "Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten". 25,70 Euro / 624 Seiten. S.-Fischer-Verlag, 2020
Cover: S. Fischer Verlag