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Die Natur kommt in ökonomischen Theorien nicht vor: der verbrannte Wald in der Sperrzone rund um Tschernobyl im April 2020.

Foto: Reuters / Stringer

Das kurz vor Ausbruch der Pandemie erschienene Buch Unsere Welt neu denken. Eine Einladung von Maja Göpel ist kein Corona-Buch, aber die Botschaft passt punktgenau: Angesichts der zahlreichen globalen ökologischen und sozialen Bedrohungen, zu denen sich das aktuelle Virus als eine weitere hinzugesellt hat, wirbt die WBGU-Generalsekretärin Göpel für ein systemisches Verständnis der Weltzusammenhänge.

Der rote Faden durch das Buch sind die Dogmen der Wirtschaftswissenschaft, welche die Politökonomin systematisch dekonstruiert. "Wenn wir die Welt neu denken wollen, müssen wir bis zu den gedanklichen Fundamenten zurückgehen, auf denen die uns heute geläufige Welt aufgebaut ist."

Ausgangspunkt ihrer Kritik sind die eigenen Studienerfahrungen. "Echte Menschen kamen in diesen ökonomischen Theorien genauso wenig vor wie echte Natur. Im Grunde drehte sich alles nur darum, dass Firmen immer mehr Gewinn anstreben und Haushalte immer mehr kaufen wollen, also die Volkswirtschaften von Staaten immer mehr wachsen. Geld war in dieser Sichtweise der einzige Wert."

Die Entfremdung der Wirtschaftswissenschaft von gesellschaftlichen Grundwerten bringt sie so zum Ausdruck: "Was den allermeisten von uns logisch erscheint, wird von den allermeisten Leuten, die an den Top-Unis Wirtschaft lehren und studieren, als Abweichung von einer tristen Norm menschlicher Existenz eingeordnet."

Ein warmes Herz

Nach dem US-Ökonomen Robert Solow, der 1987 den Nobelpreis für seine Arbeiten zum BIP erhielt, könne "die Welt praktisch ohne natürliche Ressourcen auskommen, daher ist Erschöpfung nur ein Ereignis, aber keine Katastrophe". Göpel: "Als ich das zum ersten Mal las, konnte ich es nicht fassen. Dafür gab es den Nobelpreis?"

Ihr Gegenargument: Die Natur bietet dem Menschen jährlich Dienstleistungen im Wert von rund 135 Billionen US-Dollar an – das 1,5-Fache der globalen Wirtschaftsleistung. "Rechnen wir den Zuwachs an BIP und die Zerstörung der Ökosysteme gegeneinander, ist die Summe negativ."

Wie effizient ist das Ganze also? Doch gehörte "die Bemerkung, dass etwas ‚unwirtschaftlich‘ oder ineffizient sei, nicht lange zu den verheerendsten Urteilen, die man über eine Sache fällen konnte"? Wenn aber die Preise nicht die Schäden beinhalten, welche Aussagekraft besitzen sie – und welche Wirkung?

Externe Kosten seien "eine ganz irre Bezeichnung. Extern wovon eigentlich? Extern offenbar von dem, wofür wir uns zuständig fühlen." Deutschland führte laut einer Untersuchung der Universität Würzburg-Schweinfurt 2018 in Tonnen gerechnet mehr Müll aus als Maschinen.

Auf ihre Nachfrage im Ökonomie-Unterricht, ob die Kollateralschäden des Freihandels einfach so vom Tisch zu wischen seien, reagierte der Professor so: "Seht her, da spricht ja ein warmes Herz." Ethik macht an deutschen Wirtschaftsstudiengängen 0,8 Prozent des Lehrplans aus, die Modelle werden prinzipiell als wertfrei dargestellt. Statt über Gerechtigkeit wird über "Effizienz" gesprochen.

Gewagte Annahme

Dem hält Göpel entgegen: "Umweltfragen sind immer Verteilungsfragen, und Verteilungsfragen sind immer Gerechtigkeitsfragen." Implizite Gerechtigkeitstheoreme wie die Trickle-down-Theorie oder die "Rising tide lifts all boats"-Metapher hätten sich als falsch erwiesen.

Mit der 2011 von der Weltbank festgelegten Armutsschwelle von 1,90 USD pro Tag in einem Land wie den USA an gesunde Ernährung, menschenwürdige Behausung und Gesundheitsversorgung zu gelangen, sei "eine gewagte Annahme". Bei einem Wert von 7,40 USD, der anderen Experten zufolge mindestens nötig sei, lebten 2019 ganze 4,2 Milliarden Menschen unter der Armutsgrenze – mehr als 1981.

Die berühmte Kuznets Curve sei sowohl in ihrer sozialen Variante – ab einem gewissen Reichtum eines Landes nimmt die Ungleichheit wieder ab – als auch in ihrer ökologischen Variante – je reicher ein Land, desto nachhaltiger – falsifiziert. In Deutschland lag der Overshoot Day, der Tag, an dem ein Land die ihm nachhaltig zur Verfügung stehenden Ressourcen verbraucht hat, vor Corona bereits im Mai.

Gemeinwohlverantwortung

Göpel zitiert psychologische Studien, denen zufolge Konsumorientierung weniger glücklich und frei mache. Das "Easterlin-Paradox" der Ökonomik, dass immer mehr zu haben nicht immer glücklicher macht, sei, kommentiert sie trocken, "für Nichtökonominnen nicht so wirklich paradox". Verzichten heißt für sie "nicht mehr und nicht weniger, als darauf zu verzichten, den Planeten zu ruinieren".

Die Verantwortung für die Bekämpfung des Klimawandels auf den einzelnen Bürger abzuschieben, bezeichnet sie als "Privatisierung des Umweltschutzes" oder "halbierten Liberalismus". Darüber freue sich die Wirtschaft, weil sie verantwortungsbewussten VerbraucherInnen nun ein Zusatzangebot für das bessere Gewissen machen könne.

Und die Politik, weil sie damit um die unangenehme Aufgabe herumkomme, auch etwas gegen Widerstände zu regeln, am Ende gar etwas zu verbieten. So ein Satz macht nach den einschneidenden Corona-Maßnahmen sehr nachdenklich.

Und er führt zur Frage: Wird der Staat nun auch angesichts anderer globaler Gefahren, auf die Göpel in ihrem Buch hinweist, seine Gemeinwohlverantwortung wahrnehmen und die Spielregeln ändern, oder werden die Marktgesetze der Ökonomik weiterregieren? (Christian Felber, 18.4.2020)

Maja Göpel, "Unsere Welt neu denken. Eine Einladung". 18,50 Euro / 208 Seiten. Ullstein-Verlag, 2020
Cover: Ullstein Verlag