In einer Idealversion seiner selbst erblühen: gesund und antiallergisch.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Was würde Sheldon Cooper jetzt machen? Dr. Sheldon Cooper, der junge Physikprofessor aus der US-Serie The Big Bang Theory, würde natürlich gar nichts machen. Er würde einfach so weiterleben wie bisher: Den Mundschutz und den Sanitizer besaß er bereits, und seine Wohnung verlässt er ohnehin nur in Ausnahmefällen.

Seit dreizehn Jahren fuchtelt der Parade-Nerd des Internetzeitalters mit seinen Spinnenarmen über die Bildschirme unserer Endgeräte. Sagt Sätze wie: "Zwei Teebeutel in einer Tasse? Wir sind doch nicht bei einem Rave!"

Reale Figuren, wie der zuletzt in Ungnade gefallene Woody Allen, wahrscheinlich neben Diogenes der Ur-Nerd schlechthin, pflegen diese Form von Konzentration schon seit vielen Dekaden. Auch Künstlerinnen wie Elfriede Jelinek und Anja Plaschg (Soap&Skin) bleiben am liebsten bei sich.

Wozu hinausgehen und sich "der sozialen Situation" aussetzen, wie das der deutsche Schriftsteller Joachim Lottmann so treffend beschreibt, "wenn man danach Tage des Leerlaufs braucht, um sich wieder auf Betriebstemperatur zu bringen?"

Früher Bauernhof, heute Chlor

Der funktionierende Normalbürger schüttelte angesichts derartiger Attitüden bis vor kurzem nur milde lächelnd den Kopf. Jetzt sitzt er plötzlich mit im Boot: Social Distancing, ungewisse Zukunft. Die Überfahrt wurde von einer anonymen Agentur 2020 gebucht. Aber bloß, wohin?

Gut zu wissen ist es da, dass Sozialphobie nicht zwingend eine Krankheit, sondern auch eine Haltung ist: Für viele Kreative, Homeoffice-Arbeiter und Ich-AGs (ich schließe mich hier mit ein) war das Vermeiden von Menschenansammlungen – schon lange vor Corona – eine reine Überlebensstrategie.

Geplättet von Internet, Overtourism und mitunter dauerprekärer Finanzsituation enthält unsere Hausapotheke in unterschiedlicher Zusammensetzung: Stoizismus, Lob der Stille, Näheprobleme, Umweltbewusstsein, Food-Issues und exzessive Reinlichkeit aufgrund von Viren- und Bakterienangst.

Lange von unseren Mitmenschen augenrollend als Neurotiker abgestempelt, kommen uns diese Skills jetzt überraschenderweise zugute. Und das, obwohl wir tief in unserem Inneren fest daran glaubten: Man müsste sich nur einen Monat lang auf einem Bauernhof einsperren, um endlich festen Boden unter den Füßen zu spüren, um als Idealversion seiner selbst zu erblühen: gesund, optimistisch, verträglich, antiallergisch.

Aber jetzt ist alles anders. Seit Corona leben auch die anderen so: vorsichtig, suchend, zweckoptimistisch. Zurück zur Natur, das stand lange auf unserer To-do-Liste, man kam bloß nie so wirklich dazu. Jetzt hat man keinen Nerv mehr für Reinigungsmittel auf der Basis von Heilerde und Waschnüssen – aktuell verwendet man wieder ganz viel Chlor.

Epochenbruch

Am Beginn, da überwog noch die Ferienstimmung. "Für mich ändert sich nicht viel. Ich lebe so weiter wie bisher", sagten Freunde, die schon vor Jahren aus dem Karrierehamsterrad ausgestiegen waren. "Wenn ich ehrlich bin, hätte ich auf diesem Niveau ohnehin nicht weitermachen können", vertrauten einem die Vielbeschäftigten, die Supererfolgreichen an.

Inzwischen hat jeder verstanden: Wir befinden uns mitten in einem Epochenbruch. Noch zögern die Meinungsmaschinerien. Ist das jetzt gut oder schlecht? "Wir befinden uns am Anfang eines Prozesses", erklärte Sebastian Kurz das Vorgehen der türkis-grünen Regierung.

Auch Wirtschaftstreibende und Kulturschaffende arbeiten derzeit "ergebnisoffen". Dieser Aufbruch ins Ungewisse hat den Vorteil, dass man erst einmal probieren darf, seinen Gedanken folgen, ohne festes Ziel.

Ständig hat man drei Aufträge angenommen, und dann sind hintenrum noch fünf weitere dazugekommen. Nun fallen Karriereplanungen und Sicherheiten weg. Auf einmal hat man Zeit für Balkonpflanzen. Was passiert da mit all den Leuten, die ihr Selbstbewusstsein ausschließlich über Status und Applaus definiert haben?

Um viele Überflieger ist es auffallend still geworden. Der Rest versucht sich als Homeoffice-Entertainer, um sein Publikum für die Zeit nach dem Shutdown bei Laune zu halten – ein Vorgang, der nach dreißig Jahren digitaler Revolution geradezu rührend wirkt: Noch nie bekam man (national und international) so viele Medienprofis mit ungebügelten T-Shirts und ungewaschenen Haaren, inmitten von so hässlichen, unaufgeräumten Wohnungen zu sehen.

Generation Hamlet

"Die Zeit ist aus den Fugen", ruft Hamlet im ersten Akt. Wir als Gemeinschaft, das ist jetzt auch wieder diese Hamlet-Welt: Die Karten werden neu gemischt – so wie schon nach 9/11 und nach der Finanzkrise. "Greed kills" war 2008 auf den Pappschildern von Demonstranten in der Wall Street zu lesen.

Aber ging es danach nicht munter weiter, also ausschließlich um Produkt und Markterfolg? Die Konsumenten sind weiterhin dem Fun Factor des Lebens hinterhergeflogen. Zwei Tage Party in Mallorca, Tel Aviv oder Marrakesch, kein Problem! Die künstliche Erhitzung durch Reizüberflutung und Überinformation wurde zur Norm.

Nun ist die Zeit der vermeintlichen Helden und Heldinnen vorbei. Man darf jetzt wieder bei fehlbaren Geistesgrößen wie Sloterdijk nachlesen, etwa über die Pest des Mittelalters und die darauffolgende Renaissance (Was geschah im 20. Jahrhundert?, Suhrkamp).

Man darf dem Medientheoretiker und digitalen Visionär Peter Weibel glauben, wenn er in seinem jüngsten Essay schreibt: "Die geschlossene Gesellschaft, zu der wir verdammt sind, öffnet unsere Köpfe."

Unbedingt sollte man dem steirischen Biologen und Hochschullehrer Klement Tockner glauben, wenn er sagt: "Wissenschaft ist die wichtigste Basis, um mit den jetzigen und zukünftigen Krisen umgehen zu können." Als Präsident des Wissenschaftsfonds FWF plädiert Tockner für die Stärkung einer interdisziplinären, unabhängig finanzierten Wissenschaft. "Vielfalt macht Systeme resilienter. Nur die biologische, kulturelle und wirtschaftliche Vielfalt sichert die Stabilität einer Gesellschaft."

Die Vision des technischen Fortschritts und der immer stärker fließenden Geldflüsse hält nicht mehr. Die Entfremdung des Individuums in der Moderne ist – je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet – zum Status quo geworden oder wird gerade von einer neuen Innerlichkeit abgelöst.

Mit seinem Roman On the Road hat Jack Kerouac 1957 gegen eine Zivilisation angeschrieben, die die seelischen Kräfte des Menschen verkümmern lässt. Sein Buch wurde zum Befreiungsschlag einer ganzen Generation. Ein vergleichbares Manifest würde heute wohl heißen: "Coming Home". (Ela Angerer, 18.4.2020)