Auch gestandene Philosophen können auf ihre "Teams"-Sitzung schwerlich verzichten: ein Plausch mit Platon, Boris Groys und Co.

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Wer genau hinhörte, vernahm zuletzt einen Stoßseufzer der Erleichterung. Das Wüten der Pandemie hat Hunderttausende keineswegs davon abgehalten, in den eigenen vier Wänden mit aller gebotenen Sorgfalt Heimarbeit zu leisten. Wer sich an den Verzerrungen von Zoom und Skype nicht stört, konnte sogar zu der Auffassung gelangen, noch nie wäre Laptop-Arbeit auf weicheren Daunen gebettet gewesen. Gemeint sind solche des Einverständnisses.

Seit der segensreichen Einführung der Videokonferenz hat die nicht sonderlich anschauliche, gelegentlich auch nur fade Schreibtischarbeit eine wundersame Diskursivierung erfahren. Wer, wie behördlich vorgeschrieben, ganz bei sich bleibt und dennoch auf die Anweisungen seiner jeweiligen Vorgesetzten keinen Verzicht leisten mag (oder darf), der wird den massiven Aufschwung loben, den die Dialogkultur genommen hat – Kanälen wie Zoom oder, im Falle rapide veraltender Vorlieben, Skype sei Dank.

Die dem elektronischen "Meeting" zugrunde liegende Idee ist alt, um nicht zu sagen: antik. Die effiziente Gestaltung unserer Arbeit soll als Produkt von mehr oder minder komplizierten Aushandlungsprozessen herausgestellt werden. Was sich in der arbeitsteiligen Gesellschaft leidlich bewährt hat, wandert als kulturelle Verständigungspraxis hinüber in den privaten Raum.

Gottes Wort

Nur die Schöpfung selbst wurde einzig durch Gottes Wort ins Leben gerufen. Die Überprüfung eines beliebigen Sachverhalts hingegen bedarf einiger klärender Widerworte. Seit Platon sind es die Philosophen, die in der Lage sind, das Ganze der Gesellschaft zu denken. Nur sie behalten die Gänze der Sprache – ohne lästige Spezialisierung auf Wissenschaft oder Kunst – im Blick.

Es ist demgemäß ein vor Witz und Widerlegungslust sprühender Kopf wie der platonische Sokrates, der seine Gesprächspartner regelmäßig aufs Glatteis führt. Er liefert den Nachweis, dass die glatten, gut gebauten Reden der Sophisten jeweils auf Paradoxa beruhen. (Sophisten verschleiern Widersprüche.) Sokrates, dieser erste wahrhaft dialogische Kopf des Abendlandes, pocht auf die logische Widerspruchsfreiheit der Rede. Umgekehrt ist er sich auch nicht zu schade, seiner eigenen, waghalsigen Praxis das sozusagen ultimative Paradoxon zugrunde zu legen. Sokrates sagt von sich nämlich: Ich weiß, dass ich nichts weiß!

Während also die Sophisten die schlüpfrige Glätte ihrer Rede gegen gutes Geld an den Meistbietenden verkaufen ("Wechsle Meinung gegen Bares!"), weiß der wahrhaft diskursive Geist, dass jede große Einsicht ohne Paradoxon nicht zu haben ist. Bestes Beispiel: Nur der an sich Zweifelnde besitze ausreichend Evidenz, dass er sei (René Descartes).

Sobald aber klar wird, dass die Aussage A nicht minder eine "Meinung" darstellt wie die gegenteilige Aussage Nicht-A, sollte man das Register wechseln. Der Glanz nicht-philosophischer Evidenz beruht auf dem Vertrauen, das Gegenüber von der Stichhaltigkeit eigener Argumente überzeugen zu können. Die Geschichte der Aufklärung strotzt vor solchen Anwendungsproben praktischer Vernunft: Man überprüft die Strahlkraft der eigenen Rede. Man bedarf dazu eines spiegelbildlichen Gegenübers, das uns wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Man veranstaltet einen wahren literarischen Budenzauber, der auf der Freisetzung reziproker diskursiver Kräfte beruht.

Spontan mitgerissen

Man reißt mit, und man lässt sich spontan mitreißen. Konversation wird im 18. Jahrhundert demgemäß zur Rede- und Lebenskunst. Die philosophischen Gelehrten verlassen den Katheder. Sie versprühen stattdessen im deutlich erotischeren Ambiente des bürgerlichen Salons nicht so sehr Gelehrsamkeit, sondern liefern Kostproben von Esprit. Man denke an Diderot und die französischen Autoren der "Enzyklopädie".

Von der Überzeugungskraft "realer" Anwesenheit zehren in ganz besonderem Maße jene Bilder, die der Laptop heute in den Quarantänehaushalt liefert. Von Angesicht zu Angesicht wird eine Nähe suggeriert, die ihre Genießer umso mehr zur Aufrichtigkeit verurteilt. Das "Casablanca"-Wort von "Schau mir in die Augen, Kleines!" ist der Slogan dieser Verpflichtung zur Kontrolle.

In Vergessenheit gerät darüber, dass persönliche Ansichten auf dem Meinungsmarkt nur zu höchst moderaten Preisen gehandelt werden. Im neoliberalen Kapitalismus wird für ausreichende Meinungszirkulation jederzeit gesorgt; wichtig ist nur, dass die Meinungen als Waren auch splendide Abnehmer finden.

Noch schwerwiegender scheint die Fadenscheinigkeit, mit der an potenzielle Meeting-Teilnehmer appelliert wird, unbedingt aufrichtig zu sein. Jeder Bildschirm zeigt lediglich die Oberfläche eines Mediums, seine Zeichenschicht. Dahinter – wir ahnen es – lauert die undurchdringliche Schwärze des submedialen Raums.

Wie Boris Groys überzeugend nachgewiesen hat, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen – insofern wir das Artefakt unseres Gegenübers niemals zur Gänze durchschauen können. Es sei denn, der oder die Andere verhält sich so herzerfrischend spontan, dass wir unseren Augen endlich wieder zu trauen vermögen. Dazu reicht schon der Auftritt eines Überraschungsgastes: etwa eines mit Sugo verschmierten Kindes, oder einer kätzischen Hausgenossin. (Ronald Pohl, 18.4.2020)