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Die Passionsspiele des Jahres 2020 müssen auf 2022 verschoben werden.

Foto: Reuters / Andreas Gebert

Jesus darf sich jetzt wieder rasieren und auch seine Haare abschneiden. So richtig aber freut er sich darüber nicht. "Aber ich werde es wahrscheinlich machen, ein bisschen gestutzt habe ich ja schon", sagt er.

Jesus? Ja und nein. Intensivere Haarpflege betreiben will demnächst natürlich nicht Jesus, sondern der 37-jährige Frederik Mayet, der in der bekanntesten Passionsaufführung der Welt den Sohn Gottes spielt. Oder besser gesagt: hätte spielen sollen.

Unendlich viele Veranstaltungen sind wegen Corona schon abgesagt worden: Theateraufführungen, Konzerte, Festivals, die nur einmal pro Jahr stattfinden. In Japan die Olympischen Sommerspiele, die das Pech haben, dass ihr Vier-Jahres-Rhythmus genau mit der Pandemie zusammenfiel. Aber so viel terminliches Unglück wie im bayerischen Dorf Oberammergau mit seinen 5500 Einwohnern hatte kaum jemand.

Nur alle zehn Jahre werden dort die legendären Passionsspiele aufgeführt, um ein uraltes Gelübde aus Pestzeiten zu er füllen. Der halbe Ort spielt mit, es ist ein gewaltiges Spektakel.

Von Mai bis Oktober sollten die Spiele 2020 stattfinden, 500.000 Besucher aus aller Welt waren in dem pittoresken Ort mit der Lüftlmalerei an den Häusern und der barocken Pfarrkirche erwartet worden. Doch dann kam das Virus dazwischen, alles wurde abgesagt.

Viele Tränen

"Vom Kopf her wussten wir, dass es die richtige Entscheidung ist", sagt Mayet, "aber es hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen." Er erinnert sich an viele Tränen im Dorf, als Anton Speer, der Landrat des Landkreises Garmisch-Partenkirchen, die Entscheidung verkündete – nicht in einem Papier, sondern live und wahrhaftig vor der versammelten Dorfgemeinde in Oberammergau. So wie früher.

Von einem "großen Schock" spricht auch Thomas Gröner. Er ist als Pfarrer in Oberammergau für dass seelsorgerische Wohl der Gemeinde zuständig. Daher hört er nicht nur von großem wirtschaftlichem Leid, immerhin lebt der gesamte Ort von diesen Spielen. Er muss seit der Absage auch andere Ängste zerstreuen. "Es gibt Gläubige, die sich sehr an das Gelübde gebunden fühlen", sagt er. Und die Parallelen zur aktuellen Situation sehen.

Begonnen hat alles im Jahr 1633, während des Dreißigjährigen Krieges, als der Schwarze Tod wütete. Oberammergau war eigentlich pestfrei, der Ort wurde daher abgeriegelt, auf dass keiner die Pest hereinschleppe. Aber der erkrankte Tagelöhner Kaspar Schisler hielt sich nicht an das Social Distancing von damals, schlich sich ein und brachte das Verderben.

Bühne auf den Gräbern der Pesttoten

Im Sterbebuch der Pfarrei sind von September 1632 bis Oktober 1633 mehr als achtzig Pesttote aufgeführt. "In diesen Leydweßen sind die Gemeinds-Leuthe Sechs und Zwölf zusammen gekommen, und haben die Pasions-Tragedie alle 10 Jahre zu halten Verlobet, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben", vermerkt die Dorfchronik.

Schon ein Jahr später, 1634, wurde die Geschichte vom Leiden, Sterben und der Auferstehung Christi zum ersten Mal aufgeführt. Die Bühne stand auf dem Friedhof über den frischen Gräbern der Pesttoten.

Auch Mayet, gebürtiger Oberammergauer und künstlerischer Leiter des Münchner Volkstheaters, weiß von Irritationen durch die nun nicht mehr mögliche Einhaltung des Zehn-Jahres-Rhythmus: "Ein paar Leute sagten, ihr müsst das Gelübde erfüllen. Wenigstens ein Spiel muss stattfinden." Damit alles seine heilige Ordnung hat – auch mit Blick auf die Corona-Krise.

Theaterproben statt Ischgl-Urlaub

Das Virus wütet in Bayern besonders, 36.027 Infektionen und 1137 Tote meldet das Robert-Koch-Institut. In Oberammergau aber gibt es nur wenige, nämlich sieben, Infizierte. "Ich denke, das ist Zufall und weniger auf das Gelübde zurückzuführen", meint Pfarrer Gröner, der selbst in einer Massenszene mitwirkt. Doch er sagt auch: "Vielleicht wurden unsere Leute verschont, weil sie im Dorf, am Ende des Tals, blieben und in ihrer Freizeit für die Passionsspiele probten, anstatt in Ischgl Ski zu fahren."

Bei diesen Proben, Anfang März, habe er schon manchmal ein "komisches Gefühl" gehabt, so Mayet. Denn: "Da standen 300 bis 400 Leute auf der Bühne." Durchgespielt wurden der Einzug Jesu in Jerusalem und die Vertreibung der Händler aus dem Tempel.

Aber es gab keine Ischgl-Hüttengaudi-Folgen, ebenso wenig erfolgte eine Ausbreitung des Virus wie nach der mittlerweile berühmt-berüchtigten Karnevalssitzung im nordrhein-westfälischen Heinsberg.

Der gute Wille zählt

Gröner weist besonders Gläubige auch darauf hin, dass das Gelübde ja gar nicht gebrochen wird. Die Absicht, die Spiele stattfinden zu lassen, sei "nachweislich da". Jetzt kommt die Geschichte eben zwei Jahre später, 2022, auf die Bühne im Festspielhaus. Gröner: "Gott ist kein Buchhalter. Er sieht den guten Willen." Das allein zähle.

Ausgefallen ist oder verschoben wurde die Passion, die zum immateriellen Unesco-Kulturerbe zählt, in ihrer fast 400-jährigen Geschichte nur ganz selten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde von 1920 auf 1922 verlegt, weil so viele Musiker gefallen waren, im Zweiten Weltkrieg gab es kein Spiel.

Mayet hat den Jesus schon 2010 gespielt. Corona jedoch veränderte seinen Blick. "Armut und Krankheit raffen euch dahin", sagt er als Jesus auf der Bühne. "Das hat jetzt eine andere Bedeutung für mich, nämlich die, dass wir zusammenhalten müssen."

In zwei Jahren dann werden die Aufführungen im wahrsten Sinne des Wortes eine Auferstehung des ganzen Ortes sein. Daher freut er sich jetzt schon auf den Aschermittwoch 2021. Da tritt der Barterlass für die Spiele 2022 in Kraft. Haareschneiden und Rasur sind ab diesem Tag für die Männer des Dorfes tabu. (Birgit Baumann, 18.4.2020)