In New York sind von der Pandemie alle betroffen, vom Kollaps der Wirtschaft aber am stärksten die Niedrigverdiener.

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Die einen verlegen ihren Arbeitsplatz in ihre geräumige Wohnung, die anderen riskieren bei ihrem Job eine Ansteckung oder haben diesen bereits verloren. Die einen verbringen den Lockdown auf ihrer Terrasse oder im Ferienhaus, die anderen drängen sich mit Großfamilien in dunklen Zweizimmerwohnungen.

Die einen kümmern sich um die täglichen Hausaufgaben ihrer Kinder, die anderen wissen gar nicht, dass ihre Kids seit Wochen keinen Kontakt zu Schule hatten. Die einen sind bis ins hohe Alter fit, die anderen gehören wegen ihrer Vorerkrankungen zur Risikogruppe bei Covid-19.

Dass die Corona-Krise die Ärmeren härter trifft als Reiche, daran gibt es keine Zweifel. In den meisten europäischen Ländern wird das wirtschaftliche Leid durch Kurzarbeit und andere Förderungen abgefedert.

In den USA hingegen drohen Millionen von Niedrigverdienern, die sich gerade erst von den Folgen der Finanzkrise vor einem Jahrzehnt erholt haben, wieder in Armut und Verzweiflung zu versinken.

So großzügig das von US-Präsident Donald Trump und dem Kongress auf Schiene gebrachte Hilfsprogramm auch auf den ersten Blick wirkt, für das rasant wachsende Heer an Arbeitslosen dürfte es kaum reichen. Und ein großer Brocken der zwei Billionen US-Dollar droht in den Taschen jener zu landen, die es am wenigsten brauchen.

Langzeitfolgen für Schulkinder

"Wenn die Menschen dann auf der Straße stehen, sind es in der Regel nicht die Geschäftsleiter, sondern die einfachen Angestellten", sagt Isabel Martinez, Ökonomin bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. "In der Schweiz beispielsweise fallen viele kleine Selbstständige durch die Maschen, weil sie zwar arbeiten dürften, aber keine Kunden haben. Wer erst vor kurzem ein Unternehmen gegründet hat, hat wenig Reserven. Und die Jungen, die etwa im kulturellen Bereich arbeiten, sind besonders hart getroffen."

Martinez macht sich auch Sorgen um die Langzeitfolgen für Schulkinder aus bildungsfernen Familien. "Es besteht die Gefahr, dass sie in diesem halben Jahr völlig abgehängt werden", sagt sie.

Aber wie die tiefste Wirtschaftskrise seit den 1930ern längerfristig das Verhältnis zwischen Arm und Reich beeinflussen wird, ist weniger klar. Einerseits gibt es Gründe, zu erwarten, dass die Schere weiter aufgehen wird, so wie nach der Lehman-Pleite 2008. Damals haben sich die Aktienkurse und Immobilienpreise relativ rasch erholt, während die Arbeitslosigkeit nur langsam zurückging.

In den USA stagnierten die Reallöhne, in Europa machte die Euroschuldenkrise den ganzen Mittelmeerraum zu einer Krisenregion. Und nachdem die Staaten ihre Banken gerettet hatten, taten sie wenig, um die problematische Macht der Finanzmärkte einzuschränken. Die Rufe von linken Bewegungen wie Occupy Wall Street nach einer Wende in der Wirtschaftspolitik blieben ungehört.

Die Politik entscheidet

Allerdings waren auch im vergangenen Jahrzehnt die Verteilungseffekte nicht eindeutig. Ungleichheit wird mit dem Gini-Koeffizienten gemessen. Dieser stieg in den USA von 2008 bis 2011 deutlich an, blieb dann aber bis zum Ende der Obama-Präsidentschaft konstant. Höhere Steuern für Reiche und das neue staatliche Gesundheitssystem Obamacare bildeten ein Gegengewicht zu den Gewinnen im Kapitalmarkt.

Erst unter Trump mit seinen Steuergeschenken an die Reichen ging die Schere wieder stärker auf. In Österreich hingegen hat sich der Gini-Koeffizient seit 2008 kaum verändert. Fazit: Es war viel mehr die jeweilige Politik eines Staats als die Krise, die das soziale Gefüge prägte.

Global gesehen waren die 2010er-Jahre sogar eine Ära zunehmender Gerechtigkeit. Denn während die Wirtschaft im Norden stagnierte, führte das rasante Wachstum in China, Indien und anderen Schwellenländern hunderte Millionen aus der Armut zu einem bescheidenen Wohlstand. Auch viele der ärmsten Staaten in Afrika holten dank eines stärkeren Wachstums gegenüber dem Norden auf.

Sozialprogramme und Wohlfahrtsstaat

Frühere Krisen zeichnen ebenfalls ein gemischtes Bild. Man muss gar nicht bis zur großen Pestepidemie des 14. Jahrhunderts zurückgehen, der rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel. In den Jahrzehnten danach waren Arbeitskräfte so knapp, dass die Reallöhne und der Lebensstandard der breiten Bevölkerung deutlich anstiegen, was in weiterer Folge zur Auflösung des Feudalismus führte.

Die Große Depression der 1930er-Jahre ließ Millionen in bittere Armut abgleiten, traf aber auch viele Reiche hart. Und die politischen Konsequenzen waren enorm: In den USA führte Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal die ersten Sozialprogramme ein, in Großbritannien schlug der Ökonom William Beveridge die Schaffung eines umfassenden Wohlfahrtsstaats vor, der ab 1945 tatsächlich eingeführt wurde.

In ganz Europa verabschiedeten sich Regierungen nach dem Weltkrieg vom Laissez-faire-Kapitalismus und verwirklichten auf Grundlage der Lehren von John Maynard Keynes eine soziale Marktwirtschaft mit hohen Steuern, staatlichen Eingriffen und viel sozialer Absicherung.

Die Folge waren drei Jahrzehnte, in denen sich die Schere zwischen Arm und Reich schloss und die Ungleichheit den tiefsten Stand seit Jahrhunderten erreichte, wie auch der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert aufzeigte.

Zwar läutete die Ölkrise von 1973/74 die Abkehr vom Keynesianismus ein, aber die Faktoren, die in den vergangenen 35 Jahren in den meisten Staaten zu mehr Ungleichheit führten, hatten wenig mit Krisen zu tun: Globalisierung, technologische Umwälzungen und eine Steuerpolitik, die konsequent die Reichen bevorzugt.

Einige optimistische Stimmen

Noch kann niemand sagen, wohin die Corona-Krise die Welt lenken wird. Aber es fällt auf, dass es unter den zahlreichen Prognosen einige optimistische Stimmen gibt. "Eine bessere Gesellschaft kann aus den Lockdowns erwachsen", schreibt etwa der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in der Financial Times und verweist auf den Triumph des Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg.

Viel stärker als nach der Finanzkrise 2008 greift der Staat heute in alle Bereiche der Wirtschaft ein, zahlt die Löhne von Millionen und fängt Unternehmen auf. Das hat mit der Natur einer Pandemie zu tun, aber könnte sich auch längerfristig auswirken. "Man wird die Rolle des Staats neu beurteilen", sagt Martinez. "Die Krise zeigt, dass es Aufgaben gibt, die der Markt nicht lösen kann."

Lehren aus der Krise

Auch wenn es nicht zu einem bedingungslosen Grundeinkommen kommt: Einige Lehren aus der Krise könnten mehr Geld für Gesundheitssysteme, höhere Löhne für Pflegeberufe und eine bessere soziale Absicherung sein.

In der Eurozone wird wohl kein Weg an höheren Transferzahlungen des relativ stabilen Nordens an die Krisenstaaten im Süden vorbeiführen. Das setzt allerdings voraus, dass die Staaten nicht gleich danach auf einen harten Sparkurs umschwenken.

Als große Verlierer könnten sich Staaten im globalen Süden erweisen. Ihre schwachen Gesundheitssysteme machen sie gegenüber dem Virus besonders verwundbar, und ihrer Wirtschaft fehlen die Reserven, um einen Lockdown zu überstehen.

Der größte Schaden wäre langfristig, wenn in den kommenden Jahren die internationalen Lieferketten gekappt und eine Deglobalisierung stattfinden würde. Das würde die weltweite Ungleichheit wohl wieder steigen lassen.

Die wichtigsten Weichenstellungen dürften an den Wahlurnen stattfinden. Ein Wahlsieg des Demokraten Joe Biden über Trump im November würde in den USA den Weg zu mehr Gerechtigkeit ebnen, eine Wiederwahl Trumps das Gegenteil bewirken. Und vielleicht finden auch Europas Sozialdemokraten nach dieser Machtdemonstration des starken Staats bei Wählern wieder etwas mehr Gehör. (Eric Frey, 18.4.2020)