Nina Simones wenig bekanntes Album "Fodder On My Wings" wurde neu aufgelegt.

Foto: Jean-Pierre Leloir / Universal Music

Wer das Leben als Suche versteht, hat meist den Vorteil, seine Herkunft zu kennen. Nina Simone war so eine Suchende. Doch was sie als Ursprung kannte, war nicht ihre Heimat. Es waren die USA, wo sie 1933 als Eunice Kathleen Waymon zwar zur Welt kam. Heimatgefühle hat sie dafür aber keine entwickelt. Aufgewachsen als afroamerikanisches Mädchen im rassistischen Süden, war ihr die Kunst der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Doch selbst den musste sie sich immer wieder hart erkämpfen.

Schon als die Zwölfjährige ihr erstes Konzert am Klavier gab, weigerte sie sich anzufangen, solange ihre Eltern in der letzten Reihe sitzen mussten. Diese Plätze waren ihnen zugewiesen worden, weil sie Schwarze waren. Erst als Eunice ihren Willen bekam, flogen ihre Finger über die Tasten.

Manisch und depressiv

Nina Simone, Genie und Weltkulturerbe, war zeitlebens eine Gefangene ihrer Geschichte. Das Lied I Wish I Knew How It Would Feel to Be Free klingt nie authentischer als in ihrer Fassung.

Simone war manisch-depressiv, in der Wahl ihrer Männer eher tiefbegabt, als Person unstet, immer auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Geografisch wie spirituell. Daraus wurde eine Flucht, als sie wegen Steuerschulden die USA verlassen musste. Sie lebte ab den 1970ern in Trinidad, Liberia, der Schweiz und Frankreich.

Nina Simone überprüft ihre Lebensfunktionen – alles in Ordnung, aber hallo!
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Dort hat sie 1982 das Album Fodder On My Wings aufgenommen. Es gilt im Œuvre Simones als kaum bekanntes Spätwerk, das nun erstmals mit allen Songs der Sessions neu aufgelegt wurde – auf Verve Records.

Seine Zerrissenheit liegt in den Sujets und Simones Zugängen dazu begründet. Ihr 1972 gestorbener Vater ist ebenso Thema wie die Stationen ihrer Flucht vor der Steuerbehörde. Calypso soll sie im afrikanischen Liberia dazu gebracht haben, stundenlang nackt auf dem Tisch eines Nachtclubs zu tanzen, so überwältigt soll sie von der Musik gewesen sein. Das manifestiert sich auf Fodder ... als Liberian Calypso. Am anderen Ende des Gefühlsspektrums finden sich introvertierte Miniaturen wie Color Is A Beautiful Thing.

Sunny Side Up – Nina Simone in guter Laune: Liberian Calypso.
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Das ergibt in Summe kein hermetisches Werk, doch als launisches Mosaik ist es dennoch ein kleines Meisterwerk. Fodder On My Wings ist die Momentaufnahme einer manischen und depressiven Künstlerin. Egal welcher Input welchen Output verantwortete, im Falle der Simone wirkt beides überwältigend. Im Opener I Sing Just To Know That I’m Alive brüllt sie sich beinahe die Seele aus dem Leib. Da offenbart sich, wie fragil diese Frau war, wie porös die Grenze zwischen Euphorie und Gram, zwischen Froh- und Trübsinn.

Nina Simone – Furor und Verve.
Nina Simone - Topic

All das machte sie zu einer im Umgang schwierigen Person, gewalttätig mitunter – sogar der eigenen Tochter gegenüber. Auf der anderen Seite steht ein Werk, das noch in den Skizzen eine atemberaubende Präzision aufweist, eine visionäre Klarheit.

Free at last

Manche beginnen als bessere Fingerübungen und enden als erhabene Balladen, andere Lieder baden in Verve und Furor gleichermaßen: I Was Just A Stupid Dog To Them etwa. Ein Song, dem man wünschte, Simone hätte eine vertraute Person gehabt, die sie ermutigt hätte, ihn weiter auszuführen. Andererseits blitzt ihre Größe auch hier auf: Wenn alles gesagt ist, ist alles gesagt. Im richtigen Leben griff sie dann manchmal noch zum Revolver, auf Platte erlöst die Pausenrille. Aber natürlich will man mehr von ihr. Ein "Genug von Nina Simone" gibt es nicht.

2003 starb sie mit 70 Jahren in Frankreich. Ihre Asche wurde in mehreren afrikanischen Ländern verstreut – free at last. (Karl Fluch, 17.4.2020)