Sitzungen des EU-Parlaments finden derzeit vor allem per Videokonferenz statt, in den Plenarsaal verirren sich nur wenige.

Foto: EPA / Olivier Hoslet

Die Menschen in Norditalien haben seit dem Auftauchen der ersten Infektionen mit dem Coronavirus im Februar in der Lombardei die schlimmste Zeit seit dem Krieg durchgemacht. Das Gründerland der Europäischen Gemeinschaft sieht nun nicht nur wirtschaftlich einer tristen Zukunft entgegen.

Vor allem die humanitäre Katastrophe hat sich ins kollektive Gedächtnis der Bürger eingeprägt, auch im Rest Europas: Bilder von verzweifelten Ärzten und Pflegern in Spitälern, die mangels Kapazitäten entscheiden müssen, wen sie sterben lassen und wen sie noch zu retten versuchen, das hätte man bis vor kurzem kaum für möglich gehalten.

Verständlich, wenn Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament in aller Form um Verzeihung bat: "Zu viele von uns waren nicht da, als Italien eine ausgestreckte Hand und Hilfe gebraucht hätte", sagte die Präsidentin der Kommission, "deshalb ist es richtig, dass Europa als Ganzes sich von Herzen entschuldigt."

Nicht nur die EU-Institutionen haben die Gefahr sträflich unterschätzt. Besonders die Mitgliedsländer haben am Anfang weggeschaut, an sich gedacht, so wie Österreich die Grenzkontrollen zu EU-Partnern eingeführt. Deutschland und Frankreich verboten im ersten Reflex den Export von Masken und medizinischem Schutzmaterial, setzten Transporter fest.

Europa als Ganzes hat versagt. Wer daran welchen Anteil hat, das ist ein beliebtes "Spielchen" zwischen Nationalstaaten und EU-Ebenen. Das war 2015 so, als hunderttausende Migranten aus Nahost und der Türkei Richtung Nordeuropa kamen – jedes Land fand sofort woanders die Schuldigen.

Schuld sind immer andere

So war es auch nach der schweren Finanzkrise, die zuerst wirtschaftlich schwächere Eurostaaten – allen voran Griechenland, Zypern, Irland, Portugal, Spanien – in den Abgrund riss. Die reichen Partner im Norden, vor allem Deutschland, taten das als Problem der schlampigen "Südländer" ab.

Es dauerte Monate, bis 2010 der erste Eurorettungsschirm aufgespannt war. Noch fünf Jahre später wurde heftig über einen möglichen "Grexit", den Austritt Griechenlands, gestritten, ehe Berlin einsah, dass es sich dabei nur ins eigene Knie schießen würde, wenn der Euroraum – und damit die Gemeinschaft – zerfallen würde.

An all das wollen sich heute viele nicht so gern erinnern. Solches Verhalten war damals wie heute Ausdruck für fehlende Solidarität, welche die EU in den Verträgen ihren Mitgliedern gleich in den ersten Kapiteln als Pflicht vorschreibt.

Die Union ist eben nicht nur ein Freifahrtschein für gute Geschäfte und den eigenen egoistischen Vorteil. Daher war es völlig richtig, dass von der Leyen sich quasi stellvertretend für alle anderen vor den irritierten Bürgern in den Staub warf.

Gemeinsame Euroanleihen

Das Ziel muss nun der Blick in die Zukunft sein: Wie überstehen die EU-Staaten, die – anders als 2008 – nun alle direkt betroffen sind, diese Krise? Wie kommt man da gemeinsam heraus? Oder droht gar der Absturz? Letzteres wurde schon 2008, 2010 und 2015 vorausgesagt, trat aber nie ein. In der Regel wurde das Gemeinschaftsrecht sogar ausgebaut, wenngleich nur zäh. Stichwort: Ausbau einer Bankenunion.

Das hat Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron im Sinn, der im Interview mit der Financial Times am Freitag davon spricht, der EU schlage "die Stunde der Wahrheit". Es werde sich entscheiden, ob die Union "ein reines Wirtschaftsprojekt ist oder ein politisches Projekt". Er ist für Letzteres, "menschliche Faktoren" wie die Solidarität stünden im Vordergrund, daran müsse sich die Wirtschaft orientieren.

Macron spricht sich für "Eurobonds", gemeinsame Euroanleihen mitsamt Schuldenübernahme aus. Und er warnt nicht zum ersten Mal davor, dass ein Mangel an Solidarität den Populisten, die das gemeinsame Europa zerschlagen wollen, zur Macht verhelfen könnte. Darüber wird man beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs nächste Woche reden.

Auch das ist nicht neu: 2010 wollte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy die Griechenlandkrise "europäisch" lösen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel lehnte ab. Heute erklärt Italiens Premier Giuseppe Conte, dass die Italiener sich von der EU abwenden könnten, wenn es die "Corona-Bonds" nicht bald gebe.

Rom fordert also viele Milliarden von einer EU, der es gleichzeitig droht. Man darf davon ausgehen, dass um solidarische Lösungen noch lange gerungen werden muss. Denn gerade das Beispiel Italien zeigt, dass man gar nicht so einfach sagen kann, welche Regionen in den EU-Staaten nun arm sind und Hilfe benötigen – und wer zahlen soll.

Die Lombardei ist im Gegensatz zu Süditalien eines der reichsten Industriegebiete Europas. Es gibt dort – anders als etwa in Bulgarien, Portugal oder im Baltikum – breit gestreutes Privatvermögen, das man anzapfen könnte.

Und: Spanien und Belgien sind mittlerweile von der Corona-Pandemie fast so stark betroffen wie Italien, sind aber nicht so laut. Es bleibt also kompliziert und spannend beim Thema EU-Solidarität. (Thomas Mayer, 18.4.2020)