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Rückzug Romantik: Seit Beginn der Corona-Pandemie chatten Singles länger und intensiver auf Dating-Plattformen.

Foto: Getty / Martin Dimitrov

Man kennt sich gerade mal eine Woche, und schon zieht man zusammen. Was nach einem Reality-Format wie Love is Blind auf Netflix klingt, wurde für Charlotte B. in Zeiten der Coronavirus-Krise zur Reality ganz ohne TV: Im Februar traf sie auf der Dating-App Tinder auf Matteo, dem sie schon vor zehn Jahren einmal flüchtig begegnet war.

Am 1. März fand das erste Date statt – und aus Sympathie wurde schnell Romantik. Charlotte und Matteo schmiedeten Pläne für gemeinsame Konzert- und Ausstellungsbesuche. Doch in der Zwischenzeit breitete sich die Covid-19-Pandemie in Österreich aus, die türkis-grüne Regierung verkündete Ausgangsbeschränkungen zur Viruseindämmung.

Charlotte und Tinder-Bekanntschaft Matteo dokumentieren ihre neue Liebe in Zeiten der Coronakrise.
Foto: Charlotte B.

Charlottes Chefin in einem Wiener Café bat sie, die Vorräte im Tiefkühlschrank zu verstauen, was nicht hineinpasse, könne die Kunststudentin mit nach Hause nehmen. Charlotte packte die Lebensmittel in ihren Fahrradkorb – doch statt in ihre Wohnung fuhr sie zu Tinder-Bekanntschaft Matteo. Seitdem leben sie zusammen, verbringen die Isolationszeit auf engem Raum – ein neues Miteinander, das sie mit täglichen Skizzen dokumentieren.

Wer sich liebt, bleibt sich fern

Die beiden sind eine Ausnahme unter Frischverliebten, die sich erst vor kurzem kennengelernt haben. Denn derzeit gilt für alle, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben: Wer sich liebt, bleibt sich fern. Liebe, Solidarität und gesetzliche Maßnahmen haben die Gesellschaft in kleinstmögliche Einheiten zerlegt. Und so sind Singles im Ein-Personen-Haushalt jetzt schon die fünfte Woche allein. Viele wünschen sich nun Zweisamkeit oder zumindest eine Umarmung. Bei manchen steigt die Sehnsucht, spätestens bis zur nächsten Pandemie einen Partner zu finden.

Aber wie? Seit über einem Monat sind Bars, Restaurants und Clubs geschlossen. Mit Atemschutzmaske lässt sich im Supermarkt oder am Radweg schwer flirten. Bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit: Dating-Apps.

Ausweg der Partnervermittlung

Tinder, Bumble oder auch die Partnerbörse Parship verzeichnen seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen eine erhöhte Aktivität vieler Nutzer: Die täglichen Tinder-Unterhaltungen sind weltweit um 20 Prozent gestiegen, rund ein Fünftel der Parship-Nutzer verbringt mehr Zeit auf der Plattform, und Bumble verzeichnete Ende März einen 77-prozentigen Anstieg der Videoanrufe. Die Dating-Plattformen sind ein rar gewordener Ort für einen Flirt ohne Ansteckungsgefahr, zumindest solange die Begegnung nur virtuell bleibt.

Für Felix W. ist es derzeit die einzige Option. Er ist erst im Februar zum Studieren nach Wien gezogen. Kurz nach Semesterbeginn schloss die Universität coronabedingt ihre Türen. Statt andere Studenten zu treffen, reduzieren sich Felix neue Bekanntschaften nun auf ein freundliches Nicken der Kassiererin im Supermarkt, beim Fleischhauer und in der Trafik. Dass er mit seinem Bedürfnis nach Intimität nicht alleine ist, merkt er auf der Dating-Plattform Bumble. "Ich komme monatelang ohne Sex klar, doch diesen Monat nicht", gesteht ihm eine Nutzerin beim ersten Gespräch.

Dating-App Tinder verzeichnet seit Beginn der Corona-Krise einen zwanzigprozentigen Anstieg der täglichen Gespräche. Auch bei der Flirtplattform Bumble gab es im März um 77 Prozent mehr Videoanrufe.

Mehr Kommunikation, vor allem über Sex, sei erfreulich, sagt die Soziologin Barbara Rothmüller von der Sigmund Freud Universität. Sexualforscher weltweit seien aktuell über die Folgen der Einsamkeit und des fehlenden Körperkontakts besorgt. Dies erzeuge Stress, der wiederum krank machen könne. Manche Menschen reagieren aber auf Stress erst recht mit einem erhöhten sexuellen Verlangen, das sei Teil einer unbewussten Bewältigungsstrategie.

Charlotte und Matteo skizzieren einander ohne dabei auf das Blatt Papier zu schauen.
Foto: Charlotte B.

Es entsteht ein großer Druck, wenn wichtige Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Andererseits bleibt das Gesundheitsrisiko, wenn man ihnen nachgeht. Wie sehr die Pandemie das Datingverhalten und Sexleben nachhaltig verändern wird, sei von der Dauer der Krise abhängig, sagt Rothmüller, die kürzlich Studie zu dem Thema "Liebe, Intimität und Sexualität in Zeiten von Corona" initiiert hat. Bis Monatsende wolle sie noch Daten einholen, erste Ergebnisse soll es im Mai geben. Rothmüller ortet schon nach kurzer Zeit eine Polarisierung der gesellschaftlichen Beziehungen: Häusliche Beziehungen einerseits, und von Technologien getragene Fernbeziehungen andererseits.

Weltweit Swipen

Letzteres ist die neue Realität der 30-jährigen Tinder-Nutzerin Sophia B. Seit zwei Wochen datet sie den Deutschen Tim – rein virtuell natürlich. Aufeinandergestoßen sind sie, nachdem Tinder die Bezahlfunktion "Passport" für alle Nutzer kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Die können nun ihren Standort in einer beliebigen Stadt festlegen und sich dort auf die Suche machen. Der Berliner Tim probierte die Funktion mit Wien aus – und swipte zu Sophia.

Einen Tag später tauschten sie ihre Nummern aus. Seither schreiben und telefonieren Sophia und Tim jeden Tag, oft stundenlang. "Nach drei Tagen haben wir uns gegenseitig gestanden, dass wir wohl ein bisschen ineinander verliebt sind", sagt Sophia, die ihre Überraschung darüber kaum verbergen kann. "Ohne Corona wäre das nie passiert." Die Isolation bewege einen dazu, sich intensiver mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen. Bei Gesprächen würde nun rascher über tiefgründigere Themen sinniert.

Intensivere Begegnungen

Dass die Begegnungen seit Ausbruch der Coronavirus-Krise inhaltlich intensiver sind als sonst, bestätigen auch die Anbieter der Dating-Plattformen: Die Dauer der Gespräche auf Tinder hat sich um 25 Prozent verlängert. Das Gros jener Personen, die Parship derzeit verstärkt nutzen, gibt an, sich nun mehr Zeit zu nehmen, um Profile anzusehen – und schreibt schneller und mehr potenzielle Partner mit ausführlichen Nachrichten an. "Qualitativ hochwertige Gespräche nehmen zu," sagt ein Sprecher von Bumble zum STANDARD, "weil die Menschen länger chatten und mehr Inhalte in eine Nachricht packen."

Die Online-Dating-Expertin Eva Fischer sieht die längere Phase des Schreibens und Telefonierens vorteilhaft. "Dann kennt man sich bereits viel intensiver, wenn man sich das erste Mal begegnet." Sie selbst sei das beste Beispiel: Auch sie habe ihren Mann "in der Ferne" kennengelernt. Er habe dann zwar etwas anders ausgesehen als auf den Fotos, "aber da war dann schon so viel Liebe da, dass mich das nicht gestört hat."

Tag für Tag wird das Notizbuch von Matteo und Charlotte um zwei Skizzen erweitert.
Foto: Charlotte B.

Realitätsverzerrung

Christian Beer, Paartherapeut und Gründer der Wiener Couch, ist hingegen skeptisch, dass man virtuell eine echte Beziehung aufbauen kann. "Wir verlieben uns am liebsten im Vorbeigehen, in Leute, die wir kennen und denen wir bereits vertrauen. Etwa in den Kollegen im Büro, die Friseurin oder den Fitnesstrainer." Zudem finde virtuell eine Realitätsverzerrung statt, so Beer. Je weniger man jemanden kennt, desto mehr könne man hineinprojizieren. "Dadurch findet oft eine Idealisierung statt."

Beer glaubt jedoch, dass das Bedürfnis nach anderen Menschen umso höher ist, je weniger menschliche Nähe man selbst hat. Gerade jüngeren Singles, die sonst in Bars Flirts und Sex finden, könne das auf die Stimmung und den Selbstwert schlagen. Dadurch sei es möglich, dass man sich derzeit schneller verliebe, als dies in Nichtkrisenzeiten der Fall wäre. "Der Mangel ist der Liebe zur Seite gestellt. Wenn es weniger gibt, ist sie wertvoller." Das könne sich aber nach einer Krise wieder relativieren.

"Je weniger menschliche Nähe man hat, desto größer ist das Bedürfnis danach. Das kann dazu führen, dass man sich jetzt virtuell schneller verliebt." Christian Beer, Psychotherapeut

Auch wenn das erhöhte Datingbedürfnis mancher Leute eine Mangelerscheinung sei, sagt Caroline Erb, Psychologin bei Parship, so finde doch für viele Menschen aktuell ein Perspektivenwechsel statt: An Entbehrung sei man in unserer Gesellschaft kaum mehr gewöhnt. Die konstante Konfrontation mit der Endlichkeit – täglich ist man etwa mit der hohen Covid-19-Sterblichkeitsrate konfrontiert – zeige, dass "alles begrenzt und nichts selbstverständlich ist". So würden Singles in der Krise dazu angeregt, sich erneut auf ihre Prioritäten und Bedürfnisse zu besinnen.

Das ist wohl auch langfristig wichtig. Denn selbst wenn die Ausgangsbeschränkungen aufgehoben werden, tritt nicht automatisch die alte Normalität ein. Solange es keinen Impfstoff gibt, bleibt auch beim Dating ein Ansteckungsrisiko. Schade wäre es aber auch, wenn Nähe und Intimität als gefährlich verinnerlicht werden.

Weitere zwölf Monate wolle er nicht auf ein echtes Date verzichten, sagt Felix W. Ihm ist nur wichtig, "dass sich dann beide des Risikos bewusst sind" und verantwortungsvoll damit umgehen. (Davina Brunnbauer, Flora Mory, 18.4.2020)