Im Gastkommentar widmet sich der Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk Geschichten von Corona. Er befürchtet, die Welt nach der Krise könnte gebremster und konservativer sein.

Nach der Verkündigung des Ausnahmezustands in vielen europäischen Ländern hat es vielen zunächst die Sprache verschlagen. Inzwischen ist in den meisten europäischen Ländern wieder der Alltag eingekehrt. Die einschlägigen Interessenvertreter rücken aus, um ihre Forderungen geltend zu machen, in den Parlamenten wird munter gestritten, Juristen melden sich zu Wort und auch jene, die immer schon alles besser gewusst haben. Rhetorisch befinden wir uns also wieder im demokratischen Normalzustand.

Ein Mund-Nasen-Schutz, kein Maulkorb.
Foto: AFP / Jorge Guerrero

Gnostische Diagnose

Die Deutung der nun wahrlich irrealen Vorgänge, die wir in den letzten Wochen geliefert bekommen haben, hätte kaum diverser ausfallen können. Krisen sind sinnlos, aber sie provozieren ultimative Sinngebungen. Offenkundig können wir nicht mit Kontingenz und Zufall leben. Wir müssen Geschichten erzählen, um dem Leben mit Corona wenigstens einen vertrackten Sinn zu verleihen.

Als virtuoser Übertreibungskünstler hat sich dabei der italienische Philosoph Giorgio Agamben profiliert. Ihm zufolge befinden wir uns in einem gesellschaftlichen Zustand, der "keinen anderen Wert mehr hat als das eigene Überleben". Diese gnostische Diagnose suggeriert, dass die Bevölkerung ganzer Länder auf den Zustand völlig rechtloser Existenz herabgedrückt ist. Corona wird gleichsam zur Probe aufs Exempel, der nur vorgeschobene Feind für die Etablierung einer neototalitären Welt, die auf Überwachung, Biopolitik und unsichtbarer Diktatur beruht.

Rosarotes Narrativ

Innerhalb des linken und liberalen Spektrums gibt es aber auch ein rosarotes Narrativ. Es basiert auf einer Erzählmatrix, die auf den deutschen Meisterdenker Hegel zurückgeht, die List der Vernunft. Wenn Krankheit die Vernunft befördert, lautet eine Schlagzeile in einer jüdischen Wochenzeitung mit Blick auf die Bildung einer Großen Koalition in Israel. Mit Goethe gesprochen ist das Virus die Kraft, die das Böse will und doch das Gute schafft, Bescheidenheit der Menschen, Solidarität, Vorgriff auf die ökologische Wende. Die Welt, in der wir gerade – unfreiwillig – leben, ist kein Konzentrationslager wie bei Agamben, sondern ein Laboratorium, in der die neue telematische Gesellschaft erprobt wird. Die Beschwerden von Eltern und Lehrern über die Unerträglichkeit des telematischen Seins (schon nach wenigen Tagen) lesen sich dabei wie ein ironischer Kommentar zu solchen Visionen.

Katastrophen befördern konstruktive wie destruktive menschliche Verhaltensweisen, die Entwicklung von Gemeinsinn, der wohl auch die Erinnerung an dessen historischen Missbrauch wachruft, und die Gefährdung unserer Freiheitsrechte durch Panik und Obrigkeit. Momentan sind in beinahe allen europäischen Ländern die gewohnten Freiheitsrechte drastisch eingeschränkt. Wir diskutieren deshalb über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Freilich steht das Recht auf Versammlungsfreiheit und Mobilität jenem auf Gesundheit und Leben gegenüber. Insofern wäre der negativ besetzte Begriff der Biopolitik neu zu denken. Der Pandemie wohnt die Potenz inne, nicht nur menschliches Leben, sondern auch jene Grundlagen zu zerstören, auf denen die Menschenrechte, die Zehn Gebote unseres gemeinsamen modernen Lebens beruhen. Gegen Agamben gesprochen ist der Schutz schwächerer Menschen im Ausnahmezustand sehr wohl ein zentraler Wert, der weit über das Überlebenwollen hinausgeht.

Gesellschaftlicher Bruch

Wenn wie zeitweilig in Italien oder Spanien und womöglich auch in manchen außereuropäischen Ländern das Gesundheitssystem zusammenbricht, bedeutet das eine ernsthafte Krise jedweden gesellschaftlichen Zusammenhalts, wie sie Sophokles zum ersten Mal in seinem dramatischen Werk literarisch gültig gestaltet hat. Die liberale Gesellschaft muss in einem schwierigen Widerspiel versuchen, entschlossenes Vorgehen und korrekte Jurisdiktion demokratisch auszuhandeln, auch im Hinblick auf das Nachher.

Gesellschaftliche Brüche haben geschichtsphilosophisch betrachtet immer zwei Seiten: Sie werden passiv als Einbruch von außen erlitten, sie werden aber auch aktiv als Aufbruch in Gang gesetzt. Aktive Brüche setzen Energie und Zuversicht voraus, passive sind von reaktiven Verhaltensweisen begleitet: Reparatur, Verarbeitung, Sorge um sich selbst.

Die Anti-Corona-EM

Stabile Demokratien können beweisen, dass offene Gesellschaften Krisen besser zu lösen imstande sind als autoritäre Regime. Nichtsdestotrotz wird wohl ungleich verteilter Wohlstand überall dramatisch sinken. Die Welt nach Corona könnte gebremster und "konservativer" sein: Vorsicht, Momente von Erschöpfung, der Hang zur Sparsamkeit, Rückzug und die Rücknahme individualistischer Ansprüche sind häufige Phänomene nach großen Krisen – Epidemien, Naturkatastrophen, Bürgerkriegen.

Momentaner Bezugspunkt solcher Tendenzen ist in nahezu allen Gesellschaften eine totgeglaubte Größe: die Nation. Bei den Verlautbarungen der österreichischen Regierung kann man zuweilen den Eindruck gewinnen, als ob wir uns in einer Europameisterschaft von Anti-Corona-Teams befinden würden. Dass dabei der europäische Schulterschluss zu kurz kommt, liegt auf der Hand. Frühe Kooperation, enge Abstimmung zwischen den nationalen Gesundheitsbehörden oder gemeinsames Agieren bei den Binnengrenzen hätten womöglich Leben und gemeinsame politische Standards sichern können. Im Hinblick auf die Zeit nach Corona lässt sich behaupten: Wir brauchen mehr Europa als je zuvor. Wir brauchen Politiker, die das laut aussprechen. (Wolfgang Müller-Funk, 19.4.2020)