Im Gastkommentar mahnt der Psychologe und Buchautor Ahmad Mansour, dass zu wenig gegen Fake-News unternommen wird. Er sieht staatliche Stellen, Verbände, Medien, Schulen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in der Pflicht.

Illustration: Felix Grütsch

Neben der Corona-Pandemie erleben wir gerade eine Flut an Falschnachrichten und Verschwörungstheorien. Man könnte von einer "Infodemie" sprechen. Beispiel: Ein Nachbar teilte in einer Whatsapp-Nachbarschaftsgruppe ein Video mit dem Hashtag #informiertEuch. In dem Video begründet ein Prof. Dr. Köhnlein in weißem Kittel, scheinbar am Schreibtisch in seiner Arztpraxis sitzend, einer jungen Frau gegenüber seine Zweifel an der Richtigkeit der Coronavirus-Tests. Er behauptet, mehr als die Hälfte der Tests seien fehlerhaft positiv, die Anzahl der tatsächlich Infizierten um ein Deutliches geringer. Die Situation in Italien sei ein Fake – die hohen Todesraten führt er auf Behandlungsfehler der Ärzte zurück. Seine Erklärung zur Corona-Krise: Es gehe einzig um Panikmache, damit der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn Bundeskanzler werde. Einige Nachbarn kommen ins Zweifeln, Köhnlein erschien ihnen als kompetent, vertrauenswürdig.

In anderen Gruppen wird behauptet, das Virus werde von den USA zur Schwächung von China und dem Iran gezielt eingesetzt; oder, andersherum, von China gegen Amerika und Europa. Natürlich dürfen auch Israel und die Juden in der Rolle der Bösewichte als Covid-19-Verbreiter nicht fehlen. Eine Variante beruft sich sogar auf die Narrative aus Zeiten der Pestseuche.

Krude Theorien

Solche Videos, Audiodateien mit angeblichen Geheiminformationen, Bilder, Dokumente verbreiten sich derzeit weltweit über Whatsapp, Facebook, Telegram, Instagram. Alle Theorien haben gemeinsam, dass anscheinend nichts zufällig geschieht, die Wirklichkeit anders ist, als sie gerade zu sein scheint, und alles miteinander zusammenhängt.

Für den Normalbürger, den Nichtexperten, war es noch nie schwieriger, diese Flut an Informationen einzuordnen, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Über die sozialen Medien verbreiten sich Gerüchte, Falschmeldungen oder Verschwörungstheorien in rasanter Geschwindigkeit, jeder und jede kann sie liken und teilen. Es fällt auf, dass wir zur schnellen und massiven Verbreitung von Inhalten in Social Media den gleichen Begriff benutzen wie in einer Pandemie: viral. Aber welche Maßnahmen des "Distancing" oder der "Quarantäne" gibt es gegen die virale Verbreitung von Fake-News? Zu wenige, zu schwache.

Gefühl der Kontrolle

Bei der Corona-Pandemie haben wir es mit einer komplexen Krise zu tun, die viele Menschen faktisch und emotional stark herausfordert, wenn nicht überfordert. Viele erleben das Gefühl eines Kontrollverlusts. In einer solchen Situation suchen viele nach einfachen, klaren Erklärungen. Verschwörungstheorien bieten diese. Außerdem erwecken sie bei demjenigen, der daran glaubt, den Eindruck, er sei besser informiert als die Mehrheit, er habe die Situation völlig verstanden und durchdrungen. Attraktiv wirken auch Informationen, die den Menschen scheinbar Handlungsoptionen zu ihrem Schutz bieten – zum Beispiel, dass der Verzehr von Knoblauch gegen das Coronavirus schützen soll. Das gibt Menschen das Gefühl der Kontrolle zurück.

Beide Phänomene – Verschwörungstheorien und Fake-News – erleben in Krisen ihre Hochzeit. Das war immer so, doch über die sozialen Medien verbreiten sich diese schneller, weiter und effektiver als im vordigitalen Zeitalter. Gerade autoritäre Staaten erkennen jetzt ihre Macht und nutzen mit gezielten Falschmeldungen die Situation, um das Narrativ über die Krise zu bestimmen oder um andere Länder mit solchen Meldungen zu destabilisieren. So versucht beispielsweise das Regime in Syrien seiner Bevölkerung und der Welt zu vermitteln, dass es syrienweit keine Infizierten gebe. Der Iran versucht die Katastrophe kleinzureden, China verbreitet seine Version, in der die USA für die Pandemie verantwortlich gemacht werden.

Ein Sicherheitsrisiko

Doch unser Glück im Unglück ist, dass diese Krise die sozialen Medien in ihrer tiefsten Vertrauenskrise bisher erwischt. Staaten sprechen ernsthaft über die Notwendigkeit der Regulierung. Facebook wird massiv kritisiert. Man will sich kaum vorstellen, welche katastrophalen Folgen diese "Infodemie" für Gesellschaft und Staat gehabt hätte, wenn diese Krise 2016 gekommen wäre, in Zeiten, in denen die traditionellen Medien eine Vertrauenskrise erlebten, Stichwort "Lügenpresse". Und wie gut, dass gerade jetzt und durch eine sehr professionelle Berichterstattung dieser Medien das Vertrauen in dieselben traditionellen Medien wieder deutlich zunimmt.

Dennoch: Fake-News, aber auch Verschwörungstheorien können zu einem Sicherheitsrisiko werden, das zu Hass und Unruhe führen und vielleicht sogar durch gezielte Falschinformationen die Gesundheit der Menschen gefährden kann. Deshalb sollten wir neben dem medizinischen und seuchenpolitischen Umgang mit der Krise auch eine Strategie zum Umgang mit Fake-News entwickeln. Das passiert zum Teil, aber leider noch nicht ausreichend. Fake-News müssen erkannt und bekämpft werden, durch Informationen und Richtigstellungen. Gerade verunsicherten Menschen, die sich Klarheit im Dschungel der Informationen verschaffen wollen, bieten zum Beispiel Faktenchecks eine gute Orientierung.

Ein "Impfstoff" gegen Desinformation

Nach dem Abklingen dieser Krise sollten wir auch ernsthaft darüber sprechen, wie wir unsere Gesellschaft gegen eine neue "Infodemie" fit machen können. Einige Vorschläge: Die politische Bildung sollte den Schwerpunkt noch mehr auf digitale politische Bildung legen und dafür zielgruppengerechte Angebote schaffen. Jugendliche muss man anders ansprechen als Erwachsene; Migranten anders als jene, deren Familien schon seit vielen Generationen hier leben. Medienkompetenz sollte ein Pflichtfach an den Schulen werden oder zumindest ein Bestandteil aller Schulfächer.

Die traditionellen Medien sollten im Umlauf befindliche Verschwörungstheorien oder Falschinformationen aufspüren, entkräften und vertrauenswürdige Plattformen für Kommunikation und Dialog bieten. Dafür gibt es ja bereits sehr vielversprechende Ansätze, etwa Faktenchecker. Auch hier könnten die Vereine für politische Bildung einen Beitrag leisten. Nicht zuletzt sollte bestraft werden können, wer Falschinformationen gezielt in Umlauf bringt. Ein entsprechender Straftatbestand ist zu schaffen.

Gefragt sind staatliche Stellen, Verbände, Medien, Schulen, die Wissenschaft – die gesamte Zivilgesellschaft. Sie müssen für den nötigen "Impfstoff" gegen Desinformation und Lügen sorgen, den unsere Gesellschaft dringend braucht. (Ahmad Mansour, 18.4.2020)