Giuseppe Cusimano steht dazu: "Wenn es darum geht, hungernden Menschen zu helfen, dann bin ich stolz darauf, ein Mafioso zu sein." Der Bruder eines in Haft sitzenden Mafia-Bosses war vor wenigen Tagen von einem Journalisten dabei beobachtet worden, wie er in Palermos heruntergekommenem Stadtteil ZEN (Zona Espansione Nord) Essenspakete an die ansässige Bevölkerung verteilen ließ.

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Der "solidarische Korb" ist in diesen Wochen in ganz Italien zu sehen – vor allem im Süden, wo viele Menschen allzu lang auf staatliche Hilfe warten müssen. Das Prinzip: Wer kann, hängt einen Korb mit Lebensmitteln an seinen Balkon, damit Bedürftige sich daraus etwas nehmen können.
Foto: REUTERS / Ciro De Luca

Viele Bewohner dieser Sozialbauten leben von Gelegenheitsjobs, arbeiten normalerweise in der Schattenwirtschaft oder sind überhaupt schon seit vielen Jahren arbeitslos. Wegen der Corona-Krise und des Anfang März verhängten Lockdowns haben viele von ihnen überhaupt kein Einkommen mehr und wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen.

Dass ein Reporter der Zeitung "La Repubblica" berichtete, ein berüchtigter Mafioso verteile in diesem Viertel nicht ganz uneigennützig Essen, schmeckte Cusimano gar nicht. Er betrachtet sich als Ehrenmann. Also setzte er ein wütendes – und mittlerweile wieder gelöschtes – Facebook-Posting ab, in dem er dem italienischen Staat vorwarf, an den miserablen Lebensumständen der Palermitaner im ZEN-Viertel schuld zu sein. "Der Staat will nicht, dass wir wohltätig sind, weil wir Mafiosi sind. Und statt uns zu danken, schreiben sie solche Artikel über uns."

Beschimpfungen und Drohungen

Viel mehr brauchte Cusimano auch nicht zu schreiben, denn seine getreuen Facebook-Freunde übernahmen den Rest: "Journalisten sind schlimmer als das Coronavirus", "Clown", Bastard", "Trottel" – das waren noch die harmloseren Beschimpfungen gegen den Reporter, der auch mit massiven Drohungen konfrontiert wurde.

Polizeichef Franco Gabrielli: Die Corona-Krise ist eine einmalige Chance für die Mafia, ihren Einfluss bei den Armen zu steigern.
Foto: AFP / Alberto Pizzoli

Palermos Bürgermeister, der als Mafia-Schreck bekannte liberale Politiker und Publizist Leoluca Orlando, stellte sich zwar auf die Seite des Verfassers der Reportage, Salvo Palazzolo; doch er weiß ebenso wie Italiens Polizeichef Franco Gabrielli: Die Mafia betätigt sich schon seit Generationen – und mit einem klaren Hintergedanken – als Wohltäter und Helfer für die Armen. Sie geriere sich geradezu als inoffizielles Wohlfahrtsministerium.

Die wirtschaftliche, soziale Not ist ein fruchtbarer Boden für die Cosa Nostra in Sizilien, die 'Ndrangheta in Kalabrien, die Camorra in Kampanien und die Sacra Corona Unita in Apulien, zitiert die Zeitung "Il Fatto Quotidiano" den obersten Polizisten. Das aktuelle Agieren der diversen Mafia-Organisationen in Süditalien aber sei "unerhört und besonders besorgniserregend".

In der Tat ist Cusimanos Verteilaktion in Palermo kein Einzelfall. Reihenweise erfuhren die italienischen Behörden in den vergangenen Wochen von ähnlichen Vorgängen, nicht nur in Sizilien, sondern etwa auch in Kampanien, der Region rund um Neapel: Die Camorra dort verteile Brot, Nudeln und andere Grundnahrungsmittel an Familien, die nicht länger auf die von der Regierung angekündigten Einkaufsgutscheine warten könnten.

Ein Arbeitsloser in Palermo fragt Ministerpräsident Giuseppe Conte, wann endlich die versprochenen Lebensmittelgutscheine ausgestellt werden. Er habe wegen der Corona-Krise seinen (offenbar illegalen) Job verloren und könne nun seine Familie nicht mehr ernähren. (Video von Ende März)

In mehreren italienischen Medien gab es zuletzt Berichte, denen zufolge Inhaber von Lebensmittelgeschäften gezwungen worden seien, ihre Waren an die lokale Bevölkerung zu verschenken. Teilweise war es zuvor in Sizilien und Kalabrien zu Protesten gegen überteuerte Lebensmittel auf Tagesmärkten und sogar zu Überfällen und Plünderungen von Supermärkten gekommen. Bankfilialen seien regelrecht belagert worden, um Mikrokredite zu vergeben, deren Rückzahlung wohl illusorisch sein dürfte.

Palermos Bürgermeister Orlando reagierte im Onlinedienst blogsicilia.it auf Berichte zahlreicher notleidender Mitbürger und forderte die Regierung in Rom dazu auf, so rasch wie möglich ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Für ihn sei das die einzige Möglichkeit, die Not auch jener Menschen zu lindern, die bisher schwarz arbeiteten und nun keinerlei soziales Auffangnetz haben. Auch viele bisher im Non-Profit-Bereich tätige Menschen seien massiv in ihrer Existenz bedroht.

Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen (Bild von Ende Februar, noch vor den Corona-Notmaßnahmen).
Foto: EPA / IGOR PETYX

Wohltätigkeit war schon in der Anfangszeit der Mafia im 19. Jahrhundert ein probates Mittel, um die arme Bevölkerung im Kampf gegen "die da oben" auf ihre Seite zu ziehen – freilich zum Preis von Gegenleistungen: Stimmen für bestimmte Politiker bei der nächsten Wahl, Zahlung von Schutzgeldern, Unterschlupf für flüchtige Mafiosi und entführte Personen.

Die aktuell angespannte Lage in Süditalien resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass dort laut Schätzungen des Kleinunternehmerverbands CGIA mindestens eine Million Menschen keine fixen Jobs haben und sich oft nur mit Schwarzarbeit über Wasser halten können. Mit dem De-facto-Stillstand des Wirtschaftslebens durch die Corona-Notfallverordnungen sind daher die Existenzen zehn-, wenn nicht gar hunderttausender Familien im "Mezzogiorno" (Mittag, Süden) gefährdet.

Dankbarkeit und Respekt – und Abhängigkeit

Die Mafia sieht jetzt also – aber auch schon in der Vergangenheit – eine Chance, den Staat als Macht- und Kontrollinstanz zu verdrängen, indem sie als die Institution auftritt, die sich um die Menschen kümmert, ihnen hilft. Aus denselben, nur vordergründig mildtätigen Gründen seien zuletzt in vielen Fällen die Wucherzinsen auf durch Mafiosi vergebene Privatkredite ausgesetzt worden, berichten italienische Medien.

Sei diese Corona-Notlage erst einmal überwunden, so warnt Polizeichef Gabrielli, werde die Mafia versuchen, mit beispielloser Härte und Stärke aufzutreten. Daher müssten Italiens Sicherheitsbehörden schon jetzt entschlossen vorgehen, um für die Geschäftswelt "Legalität und Schutz vor der Verschmutzung durch die Unterwelt zu gewährleisten". Denn eines sei klar: Die Mafia investiere gerade jetzt, in diesen Tagen und Wochen der durch die Virusepidemie ausgelösten staatlichen Krise, in ihre eigene Zukunft. Sie versuche, an der Basis, unter den Ärmsten der Armen, künftige loyale Verbündete zu finden – und neue Abhängigkeiten zu schaffen. (Gianluca Wallisch, 19.4.2020)