Es ist nicht allzu viel von der Ära des Teamchefs Dietmar Constantini geblieben. Dass der Tiroler am 14. Oktober 2009 David Alaba beim 1:3 gegen Frankreich in Paris als bisher jüngstem Spieler in der Geschichte des Österreichischen Fußballbundes (ÖFB) zum Debüt in der Nationalmannschaft verholfen hat, steht allerdings immer noch in den Geschichtsbüchern. Alaba war 17 Jahre und 112 Tage alt.

Wie jetzt im STANDARD nachgewiesen wird, war Alaba aber ebenso wenig der jüngste Teamspieler Österreichs wie sein Vorgänger Hans Buzek, den dieser Titel 54 Jahre lang geschmückt hatte. Der betreffende Rekord hat vielmehr schon seit dem 4. November 1917 Bestand. Und er gehört Ernst Walter Joachim (1901–1976).

David Alaba (m.) bei der Ankunft in Paris. Einen Tag später, am 14. Oktober 2009, setzte es auch für den 17-Jährigen ein 1:3 gegen Frankreich in Paris.
Foto: APA/Jäger

Der Verballhornte

Unter diesem Namen war der heute längst vergessene Torhüter der Amateure – der späteren Austria – aber nicht einmal den Fußballexperten seiner Zeit bekannt. Zum einen ließ Joachim seinen ersten Vornamen zugunsten des zweiten weg, zum anderen verballhornten die Kollegen den Joachim zum Jokl.

Als solcher stand er bald jede Woche in den Aufstellungen der Tageszeitungen

Teenager im Tor

Heute würde der junge Mann als "Shootingstar" Sportseiten füllen, damals vermerkte die Allgemeine Sport Zeitung über den Erstauftritt des Jünglings am 12. März 1916 lapidar: "Im Tor hatten sie den 15-jährigen Jokl stehen."

Die große Story über den blutjungen Debütanten sucht man auch in den Zeitungsausgaben rund um sein Länderspiel am 4. November 1917 gegen Ungarn vergebens. Das Fremden-Blatt erwähnt nur, dass es der "junge Amateur-Torwächter Jokl" ist, der "sich durch seine wiederholt gezeigten glänzenden Leistungen in Klubspielen die internationalen Ehren, die ihm morgen zuteilwerden, redlich verdient (hat)".

Dass in einem der letzten Duelle vor dem Zerfall der Doppelmonarchie mit dem gerade einmal sechzehneinhalbjährigen György Orth auf der anderen Seite auch der jüngste Spieler der ungarischen Verbandsgeschichte stand, ist fast schon ein Treppenwitz der Geschichte

Allzeit- und Kurzzeitgröße

Während die Ungarn Orth – von seinem Entdecker Jimmy Hogan, der auch dem "Wunderteam" das Scheiberlspiel beibrachte, als "der vielseitigste, größte und intelligenteste Spieler, den ich je gesehen habe", bezeichnet – nach wie vor zu ihren Allzeitgrößen zählen, war die Glanzzeit von Walter Joachim "Jokl" nur eine kurze.

Ernst Walter Joachim reiste 1950 auf der M. V. Sloterdijk, einem Dampfer der Holland-Amerika Linie, von Port Said nach New York.
Privat

Dass er bei der 1:2-Niederlage den zweiten Gegentreffer auf seine Kappe nehmen musste – bei einem Freistoß von Fußballkönig Alfred Schaffer hatte er keine Reaktion gezeigt – kreidete man ihm zwar an, im weiteren Verlauf des Spiels konnte er aber seine Klasse unter Beweis stellen. Also hütete er auch in den nächsten beiden Länderspielen gegen die Schweiz wieder das Tor der immer noch schwarz-gelben Österreicher.

Als Jokl am 6. April 1919 bei einer neuerlichen 1:2-Niederlage gegen Ungarn ein viertes und letztes Mal dem ÖFB diente, tat er dies bereits für die Republik Deutschösterreich.

Welpenschutz beendet

Europa erfuhr nach dem Ersten Weltkrieg eine Neuordnung. Die Hierarchie im Amateure-Tor auch. Jokl war dem Teenageralter noch nicht entwachsen. Mit dem Welpenschutz in der Presse war es jedoch vorbei, als er immer öfter durch Mätzchen auffiel. Mal verließ er über einen Gegentreffer verärgert mitten im Spiel das Feld, mal geriet er mit einem Mitspieler in Streit.

Vorerst nützte Willy Meisl, der Bruder des "Wunderteamchefs" Hugo Meisl, diese Eskapaden und stieg nicht nur zur Nummer eins der Violetten auf, sondern wurde von seinem Bruder 1920 auch ins Teamtor gestellt.

Boxer im Tor

1922 war Jokl wieder obenauf. Bis das Wiener Sport-Tagblatt, dessen Mitherausgeber Verbandskapitän Hugo Meisl war, im Oktober 1922 ein folgenschweres Urteil fällte: "Dieser semmelblonde Jüngling im Amateure-Gehäuse hätte das Talent, der Tormann von Extraklasse zu werden, den wir noch immer nicht haben, wenn Kanhäuser (Karl Kanhäuser vom Wiener Sport-Club, Anm.) außer Form geraten ist. Jokl hat schon Paraden gezeigt, die geradezu ein Novum in der Abwehrkunst bedeuteten, sie hätten beinahe ebenso verdient, als Jokliaden regis triert zu werden wie die aller Welt geläufigen Robinsonaden. Nun scheint Jokl der Mitwelt böse zu sein, weil sie seiner Sonderkunst zu wenig Aufmerksamkeit schenkte; er sucht sich nun durch eine andere originelle Art des Ballabwehrens auffällig zu machen – er boxt"

Matrike der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Band 1901, dritter Eintrag: Ernst Walter Joachim, geboren Anfang Jänner.
Privat

Tiefer Haken

In Karl Kastlers Standardwerk Fußballsport in Österreich hörte sich das Urteil über Jokl 50 Jahre später verblüffend ähnlich an. "Unverschämt und arrogant" nennt Meisl ihn darin. "Selten hat Wien einen besseren, niemals aber auch einen weniger erzogenen und weniger verlässlichen Torwächter gesehen."

1923 verpflichteten die Amateure jedenfalls den deutschen Teamtorhüter Teddy Lohrmann von Meister Fürth. Damit war der Platz zwischen den violetten Pfosten bis 1929 vergeben. Und die Spur von Walter Joachim begann sich zu verlieren.

Vom Gerücht zur Spur

Jahrzehntelang ist er nur ein Name im Register der österreichischen Nationalspieler. Zwar hielten sich in Fußballhistorikerkreisen Gerüchte, dass Jokl bei seinem Länderspieldebüt noch keine 17 gewesen sei, verifizieren ließen sich diese aufgrund des fehlenden Geburtsdatums allerdings nicht.

Erst Walter "Jokl" Joachim war talentiert und so eigenwillig, wie Torhüter oder Linksaußen zuweilen sein sollen.
Foto: privat

Erst das 2008 erschienene und von Marcus G. Patka herausgegebene "Lexikon jüdischer Sportler in Wien" des langjährigen Hakoah-Präsidenten Ignaz Hermann Körner warf mit der erstmaligen Nennung des ersten Vornamens Ernst ein neues Licht auf den vergessenen Torhüter.

Aber auch ein schiefes Licht: Körner bestätigte nämlich nicht nur Jokls "Launen und Mätzchen", er vermerkte weiters: "Jokl war aus dem Judentum ausgetreten und ein wütender Feind der jüdischen Hakoah."

Zu seiner Ehrenrettung sei erwähnt, was der Herausgeber gleich in seinem Vorwort festhielt: "Mitunter ist die Auswahl und Beschreibung einzelner Persönlichkeiten überaus subjektiv und der ganze Text sehr emotional verfasst worden."

In seinem "zionistischen Eifer" wäre Körner mit anderen jüdischen Gruppierungen und konvertierten Juden besonders hart ins Gericht gegangen.

Von der Spur zum Beweis

Jokls Erwähnung in Körners Lexikon war aber auch der entscheidende Hinweis, wo sein Geburtsdatum zu finden wäre – in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Und tatsächlich, bereits in einem der ersten Einträge im Band von 1901 heißt es da am 3. Jänner in schön geschwungener Schrift: Ernst Walter Joachim, ehelicher Sohn von Arthur und Jenny Joachim, wohnhaft in 1020 Wien, Förstergasse 7.

Amateure gegen Wacker im April 1923: Eine "Jokliade" des Boxers im Tor, um mit dem "Wiener Sport-Tagblatt" von Mitherausgeber Hugo Meisl zu schreiben.
Foto: privat

Das war der Beweis. Walter Joachim, genannt "Jokl", ist der jüngste Spieler der ÖFB-Geschichte! Mit 16 Jahren und 305 Tagen war er bei seinem Länderspieldebüt noch um 172 Tage jünger als David Alaba am 14. Oktober 2009 in Paris.

Das Zeugnis der Nichten

Die Antwort auf die Frage, warum Joachim ab Mitte der 1920er wie vom Erdboden verschluckt war, kommt im Oktober 2018 von zwei Nichten Jokls aus den USA.

Auf einer der vielen Ahnenforschungsseiten hatte sich neben seinem Todesjahr (1976) und -ort (New York) auch sein Familienstammbaum finden lassen.

Grace und Dorothy, beide in ihren 90ern, bestätigen auf Anfrage, dass es sich bei dem Gesuchten um ihren Onkel handelt, und liefern auch die Erklärung für sein plötzliches Verschwinden. "Er ist Anfang der 1930er-Jahre zuerst nach Italien und dann nach Ägypten gegangen. Vor Kriegsausbruch hat seine Mutter ihn davor gewarnt zurückzukehren. Also ist er geblieben."

Wien, Catania, Port Said

Die Informationen der Nichten helfen, Walter Joachims weiteren Karriereweg nachzuzeichnen. Anno, die digitale Datenbank der Österreichischen Nationalbibliothek, lieferte Zeitungsmaterial (Actionbild). Bei den Violetten nicht mehr erste Wahl, lief er 1925 kurz für den WAF, 1926 in der Reserve des WAC und Ende der 1920er noch für die Akademiker-Mannschaft der nunmehrigen Austria auf.

Im Dezember 1931 vermeldete das "Sport-Tagblatt", dass er einen Trainerjob in Catania antrat. Auf Sizilien blieb er nur wenige Monate, denn schon Ende 1932 begann sein Ägypten-Abenteuer mit einer Trainerstelle in Port Said.

Endstation Manhattan

Nach dem Krieg, so seine Nichten, lebte Jokl für einige Jahre in England, wo er für einen Buchverlag tätig war, ehe er Ende 1950 – wieder von Port Said aus – mit dem Dampfer M. V. Sloterdijk nach New York aufbrach, wo seine Schwester Käthe samt Familie schon seit den frühen 1920ern lebte.

Ernst Walter Joachim arbeitete dann bis zu seiner Pensionierung in der Verwaltung eines Spitals in Manhattan.

"Warum Walter?", fragen die Nichten Dorothy und Grace beim letzten Mail-Kontakt. Weil ihr "larger than life Uncle Walter" der jüngste Nationalspieler in der Geschichte des ÖFB ist. Und das sollte irgendwann auch in dessen Geschichtsbüchern stehen. (Horst Hötsch, 20.4.2020)