Mit dem Begriff „Verschwörungstheorie“ wird im öffentlichen Diskurs im Allgemeinen unbedacht, das heißt naiv, umgegangen. Hinterfragt wird dieser Begriff nicht, er wird schlicht verwendet, so, als wäre es absolut klar, was eine Verschwörungstheorie ist und was nicht und dass es sich dabei natürlich um etwas absolut Falsches und Grausliches, ja dem Wahnsinn nahe Stehendes handeln muss. Rasch ist ein unliebsamer Standpunkt mit diesem Wort etikettiert, und praktischerweise erspart man sich damit oft auch gleich die Argumente gegenüber abweichenden oder bizarr anmutenden beziehungsweise gegnerischen Weltanschauungen. Dass man sich damit die Sache bisweilen denn doch zu einfach macht und dieser Usus schließlich sogar aufklärungsfeindlich und demokratiegefährdend sein kann, soll im Folgenden dargelegt werden.

Geistesgeschichtliche und psychologische Erklärungen …   

Zunächst einmal soll klargestellt werden, von welchen anderen Herangehensweisen an den Begriff „Verschwörungstheorie“ sich die vorliegende Reflexion abgrenzt. Zu kurz greift etwa meines Erachtens ein historisierender beziehungsweise geistesgeschichtlicher Zugang zu dem Thema, wie ihn beispielsweise der Essayist Wolfgang Müller-Funk einmal in einem STANDARD-Gastbeitrag vorgeführt hat. Darin begnügt er sich mehr oder weniger damit, der Reihe nach natürlich abstrus anmutende antisemitische Weltverschwörungstheorien aufzulisten. Die Berechtigung dieses Begriffs muss demzufolge gar nicht mehr diskutiert werden, dieser wird ihm von vornherein schon nicht zum Problem.

Unzulänglich sind aus demselben Grund aber gleichfalls die so überaus beliebten psychologischen Definitionen und Erklärungsversuche. Auch davon ist etwas in Müller-Funks Beitrag zu finden: „Das Narrativ der Weltverschwörung mag irrational darin sein, dass sein Wahrheitsgehalt gegen null geht und es sich, psychoanalytisch gesprochen, aggressiven und libidinösen Antrieben verdankt, die im Unbewussten verbleiben.“ Nicht viel anders verfährt die Philosophin Caroline Heinrich kürzlich in einem STANDARD-Interview, wenn sie sagt: „Verschwörungstheorien erfüllen eigentlich immer dieselbe Funktion: In einer Situation, die man sich nicht erklären kann, die man nicht kontrollieren kann, die als bedrohlich für das eigene Leben empfunden wird, Sicherheit herzustellen, indem man Urheber und Schuldige ausmachen kann.“

In dasselbe Horn stößt schließlich auch der vom Guru-Jäger Christian Kreil auf Facebook verbreitete Eintrag eines angeblich an strikter Wissenschaftlichkeit orientierten Skeptiker-Vereins: „Es scheint tatsächlich eine psychische Grundbefindlichkeit zu geben, die tendenziell anfälliger für Verschwörungsmythen macht […]“.

… und ihre Defizite

Worin die Schwäche solcher psychologischen Beschreibungsmodelle liegt, das sieht man, sobald einem auffällt, dass die solcherart diagnostizierten „Verschwörungstheoretiker“ auf ihren Webseiten und in ihren YouTube-Videos geradezu spiegelbildlich nichts anderes ihren Kritikern vorwerfen. Auch sie erklären den Widerstand gegen ihre „Enthüllungen“ mit psychologischer Abwehr. Auch sie schütteln psychoanalytische Massenferndiagnosen aus dem Ärmel, die darlegen sollen, warum sich beispielsweise im Fall der Coronakrise ein Großteil der Bevölkerung so leicht von der „Panikmache“ der Virologen beeinflussen lasse und all das unhinterfragt glaube, was ihnen von den etablierten Medien gesagt werde, obwohl doch die „Fakten“ demgegenüber nachweislich ganz dagegen stünden. Und auch hier lautet die Diagnose: Die Menschen würden sich nach Geborgenheit, nach einfachen Antworten und Sicherheit gebenden Autoritäten sehnen.

Damit haben sie möglicherweise gar nicht einmal so unrecht. Genauso wie Müller-Funk und Heinrich, die beide übrigens nicht einmal ausgebildete Psychiater beziehungsweise Psychologen sind, sich nichtsdestoweniger ganz einfach die Freiheit nehmen, die „Verschwörungstheoretiker“ auf die Couch zu legen, könnte man jedenfalls im Prinzip tatsächlich umgekehrt mit ihnen selbst ja auch verfahren. Und gewiss könnte man ihnen, wenn man nur will, gleichfalls „unbewusste aggressive Motive“ unterstellen, die erklären, warum sie die von ihnen vertretenen Positionen einnehmen.

Argumente dafür, dass die beiden sich irren, müsste man dann schon gar nicht mehr bringen. Und da das Psychologisieren, wie der Sozialkritiker Michel Foucault durchschaut hat, regelmäßig mit einem Kriminalisieren Hand in Hand geht, hat man damit also den politischen und weltanschaulichen Gegner nicht nur dem psychisch Kranken oder dem Psychopathen, sondern gleich auch dem Verbrecher nahegerückt. Ist das nicht praktisch?

„Verschwörungstheoretiker“ und ihre Kritiker als Spiegelbilder

Ich denke, das entscheidende Problem psychologischer Deutungen ist nun erkennbar geworden: Was tatsächlich wahr oder falsch ist, lässt sich ganz sicher nicht klären, indem die gegnerischen Parteien sich wechselseitig in der Psychoanalyse des jeweils anderen zu überbieten suchen. Und wir sollten uns davon nicht blenden lassen.

Die Spiegelbildlichkeit zwischen Anhängern von „Verschwörungstheorien“ und ihren Gegnern geht jedoch tatsächlich noch viel weiter. So sehr sie sich voneinander unterscheiden wollen, so ähnlich sind sich beide Seiten in Wirklichkeit oft einander in vielerlei Hinsicht. Wie für den einen sonnenklar ist, dass etwas, was einmal als „Verschwörungstheorie“ etikettiert ist, von vornherein Unsinn ist, so dass er glaubt, sich gar nicht näher mit dem Inhalt und den Argumenten des betreffenden Standpunkts auseinandersetzen zu müssen, so sagt man auf der anderen Seite nur „Mainstream-Medien“ und ist sich sicher, was von dort kommt, kann ohnehin nur falsch sein. Diskussion darüber braucht es dann schon gar keine mehr geben.

Im Netz kursiert ein Witz, der das auf den Punkt bringt. In Anlehnung an das berühmte Fresko des Renaissance-Malers Raffael „Die Schule von Athen“ sieht man zwei Männer nebeneinander aus einem antiken Prachtbau treten. Sagt der eine: „Mein lieber Platon, es besteht doch nicht der geringste Zweifel an der Kugelgestalt der Erde!“ Antwortet der andere: „Schon, aber was ist, wenn diese Erkenntnis vom gleichgeschalteten Mainstream geteilt und damit unwahr wird?“

Protestant bei einer Anti-Coronamaßnahmen-Kundgebung.
Foto: Heribert CORN www.corn.at/derstandard

Inhaltliche Definitionen?

Nun, auf das alles, so könnte man einwenden, käme es aber doch nicht an. Die Sache sei doch klar. Verschwörungstheorien seien solche, die beispielsweise behaupten, dass geheimnisvolle Mächte, jüdisch-amerikanische Netzwerke zum Beispiel, oder Regierungen und Chemtrail-Versprüher, Pharmakonzerne und Virologen im Falle des Coronavirus, sich zusammengefunden hätten, um die Öffentlichkeit hinterrücks zu täuschen und die Menschheit zu beherrschen, und das seien doch ganz gewiss obskure Annahmen. Müsse man so etwas eigens widerlegen?

Und zweitens: Stimmt meine Behauptung überhaupt, dass man es sich hier oft zu leichtmacht, indem man es sich erspart, auf solche Auffassungen auch inhaltlich einzugehen? Werden sie nicht ohnehin fortwährend widerlegt, gibt es nicht jede Menge "Faktenchecks" im Internet, aber auch in den herkömmlichen Medien, die sie eindrucksvoll widerlegen?

Dieser Hinweis scheint nur auf den ersten Blick schlüssig. Die "unabhängigen Faktenchecks" gibt es, das stimmt, sogar zu Hauf. Übrigens genauso - und da sind wir wieder beim Problem der Spiegelbildlichkeit - auf der Gegenseite, bei den "Verschwörungstheoretikern". Wessen "unabhängige Faktenchecks" ich nun also glauben soll oder nicht, das ist also schon wieder mein Problem als Medienkonsument, ebenso wie für mich undurchsichtig bleibt, was an dem Wörtchen "unabhängig" wirklich dran ist.

Vor allem aber ist diese argumentative Auseinandersetzung mit den "alternativen Wahrheiten" eine relativ junge Erscheinung und offenkundig eine Reaktion darauf, dass in den letzten Jahren, und noch einmal verstärkt jetzt im Zusammenhang mit der Coronakrise, der Druck aus dieser Richtung immer größer wurde. Davor hat man sich jahre- und jahrzehntelang damit begnügt, die eine oder andere Auffassung bloß als "Verschwörungstheorie" abzutun und hielt die Sache damit für erledigt.

Xavier Naidoo und Stephan Schulmeister als Gesinnungsgenossen?

Und sicherlich: Was beispielsweise der deutsche Sänger Xavier Naidoo im Netz verbreitet, scheint so offensichtlich Unsinn zu sein, dass man nicht viel darüber debattieren zu müssen glaubt. Die Wahl solcher krassen Beispiele verschleiert aber, dass das Wort „Verschwörungstheorie“ schon längst zu einem Kampfbegriff geworden ist, der viel umfassender eingesetzt wird. Und nicht immer ist die Lage so eindeutig. Vielmehr wird die Etikette „Verschwörungstheorie“ eingesetzt, um die Dinge so eindeutig erscheinen zu lassen. Wie soll man es sonst verstehen, dass etwa jeder, der die Auffassung vertritt, die Sichtweise der westlichen Medien auf den jugoslawischen oder ukrainischen Bürgerkrieg sei einseitig, schon deswegen damit rechnen muss, als „Verschwörungstheoretiker“ abgestempelt zu werden? Immer wieder werden auch Friedensforscher und -aktivisten auf diese Weise diffamiert, nur weil sie sich nicht mit den offiziellen Narrativen abspeisen lassen, mit denen militärische Interventionen gerechtfertigt werden. Vor kurzem gab es im STANDARD sogar die Stellungnahme eines Professors für Banken und Finanzwirtschaft, der nebenbei gleich auch den Neoliberalismus-Kritiker Stephan Schulmeister in einen Topf mit „Verschwörungstheoretikern“ warf, offenbar bloß weil er dessen Ansichten als irrig ansieht. Man merkt hier schon: Der Begriff „Verschwörungstheorie“ ist zu einem weitgehend beliebig einsetzbaren Begriff geworden, mit dem so ziemlich jede abweichende und unliebsame Meinung diffamiert und Kritik an herrschenden Verhältnissen abgewürgt werden kann. Und das ist bedenklich.

Zweierlei Maß

Umgekehrt ist die Frage zu stellen, warum anderes, was den oben genannten inhaltlichen Kriterien zufolge eigentlich als „Verschwörungstheorie“ gelten müsste, dann nicht so bezeichnet wird. Darunter fällt für mich beispielsweise die wie eine gesicherte Wahrheit kursierende Behauptung, der russische Präsident Wladimir Putin hätte zusammen mit einer Schar von Internet-Gehilfen und womöglich noch dem Wikileaks-Gründer Julian Assange als Unterstützer in einer konzertierten Aktion 2016 die US-Präsidentschaft der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton verhindert und Donald Trump zum politischen Führer der Vereinigten Staaten gemacht.

Man muss schon ein sehr schlichtes Gemüt haben, um sich die Welt so einfach vorzustellen. Trotzdem ist diese Ansicht weitgehend unangefochten im öffentlichen Diskurs präsent, und niemand bezeichnet sie als das, was sie ihrem Inhalt nach doch ist: eine „Verschwörungstheorie“! Wie lässt sich das nun erklären? Derselbe Typus von Ideologiebildung, der sonst als "Unsinn" gebrandmarkt wird, wird hier akzeptiert. Man geht wohl recht in der Annahme, dass dabei eine von vornherein gegebene Parteilichkeit der öffentlichen Meinung eine gewichtige Rolle spielt. Wenn man die Gelegenheit hat, etwas den Russen anzuhängen, dann ist das, was sonst eine "Verschwörungstheorie" wäre, auf einmal keine mehr, sondern die reine Wahrheit.

„Verschwörungstheorie“ als Resultat eines Zuschreibungsprozesses

Wie bedenklich diese Entwicklungen sind, fällt immerhin im Zusammenhang mit der Coronakrise und der damit einhergehenden Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte doch allmählich einigen auf. Hervorzuheben ist der Beitrag von Adrian Lobe in der Wochenzeitung „Falter“ mit dem Titel „Wer bestimmt die Wahrheit?“. Der Artikel widmet sich nicht nur den im Zusammenhang mit Corona verschärften Lösch- und Zensurmaßnahmen auf Facebook (und YouTube, müsste man hier ergänzen), die die Meinungsfreiheit einschränken, sondern auch den Absichten mancher EU-Politiker, in Hinkunft möglicherweise alles unter Strafe zu stellen, was nicht amtlich anerkannten Wahrheiten entspricht. Lobe erkennt die Gefahr: „Das Problem am Begriff der Fake News ist nicht nur, dass er eine klare Definition von wahr und falsch vermeidet, sondern auch, dass er dem Falschen von vornherein die Legitimität abspricht. Das Etikett ‚Fake News‘ reicht, um vorbeugend ausgesiebt zu werden.“

Damit ist im Kern auch schon mein eigener Zugang zum Begriff „Verschwörungstheorie“ beschrieben. Der Ausdruck signalisiert meines Erachtens in erster Linie die voreingenommene Haltung und Parteilichkeit dessen, der ihn gebraucht, und ist schon darum nicht dafür geeignet, die Diskussion auf eine sachliche Grundlage zu stellen. Anders gesagt: Man versteht den Begriff „Verschwörungstheorie“ nicht, wenn man nach seinem objektiven Inhalt fragt, sondern erst, wenn man die Funktion durchschaut, die er im gesellschaftlichen Sprachspiel erfüllt. Er ist das Resultat einer sozialstrukturell erzeugten Zuschreibung. Das fällt in die Zuständigkeit dessen, was man in der Soziologie „Etikettierungsthese“ nennt, ein viel zu wenig beachtetes gesellschaftswissenschaftliches Theorem. Es geht um das Phänomen von Stigmatisierung.

Der Begriff „Verschwörungstheorie“ ist also ein stigmatisierender Ausdruck. Die gesellschaftliche Funktion, die ihm, zusammen mit den oft beigefügten Adjektiven "krud" und "obskur", zufällt, ist aber eine manipulative. Wo immer – und das habe ich einige Male erlebt – in Diskussionen beispielsweise Positionen ohne jede weitere Argumentation lediglich mit dem höhnischen Ausruf zurückgewiesen werden, das seien ja „Verschwörungstheorien“, gilt es achtsam zu sein. Hier wird eine unglaubliche diskursive Macht ausgeübt, nichts lässt sich mehr darauf sagen, keine Rechtfertigung, keine noch so vernünftige Begründung, nicht einmal konkrete Beweise und Belege reichen dann mehr aus, das Urteil ist gefällt, man ist in den Augen der anderen vernichtet und widerlegt und braucht gar nichts mehr zu sagen, es gibt nichts mehr zu diskutieren.

Problematische Vorab-Massenaburteilung

Wie problematisch eine solche pauschale Vorab-Massenaburteilung von allem, was nicht der anerkannten öffentlichen Meinung entspricht, ist, braucht hier wohl nicht eigens erklärt zu werden. Ein solcher Mangel an Differenzierung und Abwägen rächt sich aber. Die Gefahr, hier das Kind mit dem Bad auszuschütten, ist groß. Und ich bin mir bewusst, dass ich mich jetzt weit aus dem Fenster lehne, aber es muss dennoch gesagt werden: Selbst unter dem, was hier nun mit einem Rundumschlag als "Corona-Verschwörungstheorien" abgetan wird, ist bei näherem Hinblicken nicht nur Falsches. Ich persönlich finde es jedenfalls wirklich äußerst bedenklich, wenn ein reicher, demokratisch nicht legitimierter Privatmann die globale Gesundheitspolitik bestimmt. Und das tut Bill Gates, denn nichts von dem Geld schenkt er, wie oft suggeriert wird, einfach her, sondern es muss zweckgebunden verwendet werden. In der Stiftung des selbsternannten Philanthropen sitzen neben den Giganten der Pharmaindustrie die Ölkonzerne BP, Exxon und Shell ebenso wie der Saatgutriese Monsanto, was, so sagen Kritiker, in der Vergangenheit beispielsweise zur Folge hatte, dass von diesen Konzernen bewirkte Umweltschäden als Ursache von gesundheitlichen Problemen in Afrika kein Thema für die WHO waren. Stattdessen stürzte man sich lieber auf Impfprogramme. Ich frage: Ist diese Kritik wirklich so unsinnig?

Ich glaube also zwar natürlich nicht daran, dass Bill Gates Corona erfunden hat, um die Herrschaft über die Menschheit zu erringen. Umgekehrt aber halte ich es für verheerend, wie nun in einem Schulterschlussreflex auch alle berechtigte Kritik an ihm pauschal abgeblockt wird mit dem Hinweis, dabei handle es sich um "Verschwörungstheorien".

Gleichfalls sind meinem persönlichen Eindruck nach die Vorbehalte der geächteten "Impfgegner" gegen verordnete Massenimpfungen nicht so durchwegs ohne alle rationale Basis, wie allgemein getan wird. Ich bin hier etwa auf einen gut recherchierten Artikel der "Presse" - hoffentlich doch ein unverdächtiges Medium - aus dem Jahr 2012 gestoßen, der eindrucksvoll die Folgen einer solchen Massenimpfung in den skandinavischen Ländern beschreibt, die 2009/2010 gegen die Schweinegrippe durchgeführt wurde: Es gab daraufhin zwar nicht weniger Erkrankungen als anderswo, dafür verursachte der Impfstoff bei vielen Jugendlichen schwerwiegende Hirnschäden, die die Ärzte nicht vorhergesehen hatten. Meinem persönlichen Dafürhalten nach reicht dieses Beispiel, um zu zeigen, wie abträglich es sein kann, immer blind den anerkannten "Experten" zu glauben und alle Skepsis ihnen beziehungsweise der dominanten öffentlichen Meinung gegenüber mithilfe von diffamierenden Kampfbegriffen zu unterdrücken.

Die zwei Gesichter des postmodernen Zeitalters

An einer Stelle seines Textes legt Lobe diese neuen autoritären Züge des öffentlichen Diskurses als Gegenentwicklung zum postmodernen Paradigma aus, in dem die „eine“ Wahrheit nicht existiere. Hierin irrt er sich jedoch meines Erachtens. So liberal, bunt und offen für das „Andere“ die Postmoderne sich immer gab, so deutlich wohnt ihr dennoch, für den kritischen Beobachter deutlich erkennbar, seit jeher das autoritäre Gehabe inne. Wer etwa jemals auf der Universität in einem postmodern orientierten Seminar – beispielsweise zur Gendertheorie – teilgenommen und dabei mitbekommen hat, mit welch unduldsamen Gestus einem dort erklärt wird, wie man zu denken habe und wie nicht - denn sonst sei man ja „essentialistisch“ -, der weiß, wovon ich rede.

Auf diesen latenten Widerspruch des postmodernen Zeitalters weist auch der Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Artikel vom vergangenen Oktober in der "Neuen Zürcher Zeitung" hin, wenn er die massive Empörung über die Verleihung des Literaturnobelpreises an den Schriftsteller Peter Handke seiner politischen Ansichten wegen ins Visier nimmt: „Während man theoretisch wortreich die Ambiguitätstoleranz beschwört, ist man praktisch auf eine Eindeutigkeit fixiert, die keine intellektuelle Redlichkeit, sondern nur noch rohe Reflexe kennt.“

Konflikt mit dem Prinzip der Meinungsfreiheit

Und dann stellt er einen Gedankengang an, der gar nicht so unähnlich dem Lobes ist: „Der Empörungsreflex zeitigt auch andere tragikomische Effekte. In der grossen wie in der kleinen Welt äussert sich die moralische Entrüstung gerne in einer Handlung, der man eine gewisse Angemessenheit an den Geist unserer Zeit nicht absprechen kann: dem Boykott. Als Reaktion auf das Verwerfliche verweigern wir jeden Umgang mit diesem. Ob es sich um den Boykott von Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten handelt oder um den Aufruf, die Produkte eines missliebigen Unternehmens nicht zu kaufen – das Prinzip ist das gleiche: Schliesse das Böse aus dem Warenverkehr aus. Dass manche keine Orangen aus Israel kaufen wollen, gehört ebenso in diese Kategorie wie die ökonomische Ächtung eines Biobauern, der Mitglied der AfD ist, und dass man in einer Buchhandlung nicht mehr auftreten kann, wenn ruchbar wird, dass die engagierte Betreiberin sich selber als konservativ und bürgerlich bezeichnet, versteht sich für einen moralisch sensiblen Schriftsteller von selbst.“

Aktuell gibt es in Deutschland den Fall des veganen Fernsehkochs Attila Hildmann, der bei einer Corona-Demonstration festgenommen wurde und, wie man sagt, "krude Verschwörungstheorien" verbreitet haben soll. Und schon geht man daran, seine Bücher und Produkte aus den Regalen der Kaufhäuser zu entfernen. So abwegig die Ansichten dieses Mannes auch tatsächlich sein mögen, so unsympathisch er mir selbst auch vielleicht ist, ich persönlich frage mich in solchen Fällen dennoch immer mehr, wie das zum Recht auf freie Meinungsäußerung passt. Auf den Punkt bringt meines Erachtens das Kernproblem ein Ausspruch des US-Wissenschaftlers Noam Chomsky, der im Internet kursiert: "Wenn wir nicht an die Meinungsfreiheit der Menschen glauben, die wir verachten, glauben wir überhaupt nicht an Meinungsfreiheit."

Von der offenen Gesellschaft zum Meinungsimperialismus

Meine These lautet: Immer schon hat sich ein eigentümlicher Meinungsimperialismus in die angeblich so offene und liberale Postmoderne eingeschrieben. Mit „Meinungsimperialismus“ bezeichne ich den heute zentral gewordenen Kampf um die absolute diskursive Vorherrschaft und Deutungshoheit auf dem Planeten. Genauso brutal und unerbittlich, wie man in Gestalt des territorialen und ökonomischen Imperialismus um Gebiete und Märkte Kriege geführt hat und noch führt, wütet daneben heutzutage die Schlacht um die Meinungen der Menschen. Es ist ganz so, als wären sie mittlerweile das wichtigste Kapital, wichtiger als Öl, Gold und sonstige Bodenschätze.

Hatte die Postmoderne einst eine Öffnung versprochen, ist demgegenüber inzwischen in Wahrheit allenthalben das geistige Klima enger geworden, schlanker und neoliberaler gewiss, aber auch restriktiver und aggressiver. Methoden der Einschüchterung überwiegen gegenüber der sachlichen Auseinandersetzung und echter Reflexion. Zwischentöne und Feinheiten interessieren kaum noch jemanden. Es gibt nur mehr Schwarz oder Weiß. Obwohl auf der einen Seite andauernd von Vielfalt und Buntheit die Rede ist, ist in den letzten Jahren immer engmaschiger das Netz um das geworden, was als zulässig nicht nur in der Öffentlichkeit zu sagen, sondern auch bloß privat zu denken erachtet wird. Dessen ungeachtet verbreiten sich paradoxerweise gleichzeitig aufgrund der Dynamik der neuen sozialen Medien Aussagen im Internet, die früher niemals jemand öffentlich tätigen hätte können. Im Gewebe von neuen Freiheiten und neuen Verboten wird es zunehmend schwieriger sich zurechtzufinden, der gesellschaftliche Diskurs leidet an zunehmender Desintegration. Jeder weiß alles, aber keiner versteht mehr den anderen, habe ich bisweilen den Eindruck. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Und jeder glaubt natürlich, er selbst habe die absolute Wahrheit. Trotz all der Vielfalt von Diskursen weiß allerdings, kommt mir manchmal vor, heutzutage kaum noch jemand, was wirklich kritisches, eigen- und widerständiges Denken ist.

Dergestalt erhält der immer schon ein wenig naive Wissenschaftstraum des Philosophen Karl Popper, dass sich einmal bloß Theorien anstatt Menschen gegenseitig bekämpfen und ausmerzen würden, allmählich eine pervertierte Bedeutung, die er ganz gewiss nicht im Sinne hatte. Auch nicht so sicher, wie er das geglaubt hat, scheint nun, dass in einer „offenen Gesellschaft“ wie der unseren automatisch immer die beste Theorie überleben wird. Vielleicht sollten sich die Eliten zur Abwechslung einmal selbstkritisch fragen, warum das Vertrauen der Menschen in sie immer geringer geworden ist, anstatt immer nur mit dem Finger auf ihre Kritiker zu zeigen und sie pauschal als "Verschwörungstheoretiker" zu denuntieren. Der Kampf, der nun bis aufs Messer geführt wird, ist aber kein geringerer als um die Frage: Wer definiert die Wirklichkeit? (Ortwin Rosner, 19.5.2020)

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