Wien – Die von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mantraartig beschworene "neue Normalität" scheint für Christian Gneist noch gewöhnungsbedürftig zu sein. Gneist ist der Vorsitzende eines Schöffensenats in einem Raubprozess und vor Viren ziemlich gut geschützt.

Der Richter trägt einen Plexiglasschutzschild wie ein Chemiker, sitzt vor einer auf der Richterbank installierten Plexiglasscheibe mit Sprechöffnung, und alle anderen Prozessbeteiligten und Zuseher im geräumigen Saal 211 des Wiener Straflandesgerichts haben MNS-Masken auf. Als ein Zeuge ihm seine Ladung an der Scheibe vorbei zur Unterschrift übergibt, entkommt Gneist der Satz: "Ich komm mir vor wie ein Schalterbeamter."

Die Plexisglasscheibe im Verhandlungssaal, die Richter Christian Gneist (re.) vor einer Ausbreitung von Covid-19 schützen soll.
Foto: Möseneder

Die Öffentlichkeit bei dem Verfahren ist durchaus überschaubar: Drei Journalistinnen und zwei Journalisten, Rechtspraktikanten und die Partnerin des angeklagten Mazedoniers, dem vorgeworfen wird, am 15. Oktober im nächtlichen Rathauspark einen 28 Jahre alten Pakistaner betäubt und mit zwei unbekannten Komplizen ausgeraubt zu haben. Die Beute: 800 Euro und ein Mobiltelefon.

"Ich bin seit 33 Jahren in Österreich und hatte nie Probleme mit der Polizei!", beteuert der Angeklagte, nachdem er sich nicht schuldig bekannt hat. "Einen Raub würde ich nie machen!" – "Na ja, Sie sind ja im Februar hier im Haus verurteilt worden", hält der Vorsitzende ihm vor. "Ja, aber das war kein Raub!"

Im Unterholz auf Männerbekanntschaften gewartet

Der 50-Jährige erinnert sich demgemäß nicht an die Tatnacht, aber an den 19. Oktober: "Ich habe in einem Busch auf Männer gewartet", lautet die etwas überraschende Erklärung für seine Anwesenheit. Auf Nachfrage führt er näher aus: Der Park sei ein beliebter Treffpunkt für anonymen Sex unter Homosexuellen. Plötzlich sei der 28-Jährige im Unterholz erschienen, habe ihn am Arm gepackt und "Mein Telefon, mein Telefon!" gesagt.

Er habe nicht gewusst, worum es ging; als der Jüngere, den der Angeklagte vom Sehen her kannte, aber damit drohte, die Polizei zu verständigen, bot er ihm 200 Euro an. "Warum?", will Gneist wissen "Meine Partnerin wusste nicht, dass ich schwul bin, und ich wollte nicht, dass es bekannt wird", erläutert er.

Da das mutmaßliche Opfer und ein weiterer Zeuge zunächst nicht erscheinen, ergibt sich in der Verhandlungspause die Chance, auch andere Gerichtsbereiche auf Covid-Veränderungen zu überprüfen. Die Kantine hat seit Montag wieder geöffnet, allerdings werden Getränke und Speisen nur über einen quergestellten Tisch an der Eingangstür ausgehändigt, wenn man telefonisch vorbestellt hat.

Temperaturmessungen am Gerichtseingang

Im nahe gelegenen überdachten Rauchergang halten die Nikotinabhängigen den Ein-Meter-Abstand ein, was zu einer etwas gesteigerten Lautstärke der Unterhaltungen führt. Beim Eingang in der Wickenburggasse ist das Sicherheitspersonal damit beschäftigt, die Anordnung des Oberlandesgerichts umzusetzen, und misst bei Besuchern, die MNS-Masken tragen und sich die Hände desinfizieren müssen, die Temperatur. Passieren darf nur, wer eine Körpertemperatur unter 37,5 Grad hat.

Im Saal 211 geht der Raubprozess schließlich mit dem Auftritt des mutmaßlichen Opfers weiter. Die Frage des Vorsitzenden, ob er im Saal jemanden wiedererkennt, verneint der Zeuge zunächst. Was auch daran liegen mag, dass eine Maske vor dem Gesicht die von Gesetzesbrechern geschätzte Funktion erfüllt, fast unkenntlich zu machen.

Auch für unmaskierte Prozessbeteiligte ist am Straflandesgericht Wien vorgesorgt: Kunststoffschilde für das Gesicht und Desinfektionsmittel stehen im Saal bereit.
Foto: Möseneder

Dann ändert der Pakistaner aber seine Meinung und sagt, dass der Angeklagte einer der Täter sei. Im Laufe der Befragung verwickelt sich der 28-Jährige aber immer mehr in Widersprüche. Im Herbst hatte er bei der Polizei noch gesagt, zwei Männer seien auf einer Bank gesessen, und ein Dritter sei von hinten gekommen und habe ihm ein Tuch mit einem Betäubungsmittel ins Gesicht gehalten. Nachdem er aus einer kurzen Bewusstlosigkeit erwacht sei, hätten andere Zeugen berichtet, alle drei hätten seine Taschen geleert.

Vor Gericht lässt er nun zunächst übersetzen, die drei Männer hätten ihn aufgehalten. Dann ändert er plötzlich die Erzählung und sagt, der Angeklagte sei von vorne auf ihn zugekommen und habe ihm ein Taschentuch ins Gesicht gedrückt, Sekundenbruchteile später sei er bewusstlos geworden.

Widersprüchliche Angaben

Vorsitzender Gneist hält ihm seine zweite Aussage bei der Polizei vor, die er am 20. Oktober in Beisein eines Dolmetschers machte: Damals sagte er, der Angeklagte sei einer der beiden Männer auf der Bank gewesen, betäubt habe ihn ein Unbekannter. "Nein, ich sagte auch damals, dass es der Angeklagte gewesen ist", beharrt der Zeuge.

Er belastet den Angeklagten sogar noch weiter: Da ihm Zeugen gesagt hätten, die drei Verdächtigen seien häufig im Rathauspark, habe er nach ihnen Ausschau gehalten. In Begleitung eines Freundes habe er den 50-Jährigen am 19. Oktober dann wieder entdeckt. Der Angeklagte sei weggelaufen und habe schlussendlich versucht, ihn mit einem Ast zu schlagen. Eine Version, die der Zeuge erstmals erzählt und an die sich auch sein Freund offenbar nicht erinnern kann.

Geraubte Geldbörse kam per Post

Verwirrend ist auch die angebliche Reaktion des Angeklagten am 19. Oktober. Laut den beiden Pakistanern hätten sie gefragt, wo die Geldbörse des Opfers sei, worauf der Angeklagte geantwortet habe, die sei schon in der Post.

Nur: Bei der Polizei gab das Opfer am 20. zu Protokoll, dass er das Portemonnaie bereits am 18. Oktober von der Post geholt habe. Das sei eine Fangfrage an den Angeklagten gewesen, argumentieren die beiden vor dem Senat.

Auch die Frage, wofür der Angeklagte ihnen 200 Euro geboten haben soll, ist nicht ganz klar. Denn das Opfer spricht praktisch kein Deutsch, sein Bekannter nur wenig – ihrer Wahrnehmung nach habe der Angeklagte gestanden, sicher sagen können sie aber nur, dass er keine Polizei wollte. "Als die Polizei dann da war, hat er mich außerdem verleumdet und gesagt, ich sei homosexuell!", empört sich der 28-Jährige auch über den Angeklagten. "Das ist nicht strafbar", merkt der Staatsanwalt dazu an.

Die widersprüchlichen Aussagen der Zeugen haben zur Folge, dass der Senat nur wenige Minuten braucht, um zu einem Urteil zu kommen – einem rechtskräftigen Freispruch. "Danke sehr", sagt der nun Ex-Angeklagte noch, bevor er den Saal verlässt, vorbei an einem Tisch, auf dem Kunststoffgesichtsschilde für Zeugen und eine Flasche Desinfektionsmittel drapiert sind. (Michael Möseneder, 20.4.2020)