Die Luxusimmobilie Hovard Palace in St. Petersburg knüpft stilistisch an alte Zeiten an. Neoklassizismus schmückt Oligarchenvillen und Mehrfamilienhäuser für Manager.

Foto: Herwig Höller

Aus imposanter Perspektive aufgenommen: der Olympische Brunnen und das Fischt-Stadion (2014) in Sotschi-Adler.

Foto: Herwig Höller

Mit der Wiedereinführung der Sowjethymne, deren neuen Text mit Sergej Michalkow (1913–2009) der greise Autor der stalinistischen Erstfassung verfasste, hatte Wladimir Putin Ende 2000 für einen symbolpolitischen Paukenschlag gesorgt. Eine allgemeine Aufwertung sowjetischer Ästhetiken blieb aber aus, Visuelles schien den Neopräsidenten nicht zu interessieren, ebenso wenig die Architektur: Das Schaffen einer harmonischen Gestalt von Orten und von würdigen Lebensbedingungen erklärte er schwammig zum Schwerpunkt der Architekturpolitik.

In Putins Biografie hatte Kultur zuvor keine Rolle gespielt. Zwar wurde immer wieder seine Herkunft aus der "Kulturhauptstadt" St. Petersburg betont. Doch der junge Wolodja bevorzugte sichtlich Hinterhofprügeleien gegenüber Besuchen in Eremitage oder Kirow-Theater. Selbst im Interviewbuch In der ersten Person, das ihn vor seiner ersten Wahl von einer positiven Seite zeigen sollte, sind keine ästhetischen Vorlieben zu finden. Lediglich an einer Stelle ist von "guter Musik" die Rede, die auf der Hamburger Reeperbahn während einer Striptease-Einlage ertönt sei.

Kulturelle Fehlstelle

Auch zwei Jahrzehnte nach seiner Machtübernahme im Mai 2000 hat sich an dieser kulturellen Fehlstelle wenig verändert: Der Langzeitpräsident, der nach einer Verfassungsänderung bis 2036 regieren könnte, machte zwar einen antiwestlichen Rechtskonservatismus in Verbindung mit imperialen Ambitionen de facto zur Staatsideologie. Doch eine offizielle Ästhetik für seinen Staat verordnete er nicht.

Dabei hatten sich Anhänger wiederholt ein Machtwort gewünscht: 2012 versuchte der rechtsnationale Maler Ilja Glasunow (1930–2017), Putin zu Maßnahmen gegen zeitgenössische Kunst zu überreden und damit realistische, russische Kunst zu unterstützen. Putin lehnte ab und antwortete mit einem Exkurs zu Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat, der vor allem Lücken in seinem kunsthistorischen Wissen offenbarte.

Marker für Illoyalität

Glasunows Wunsch ging dennoch teilweise in Erfüllung: Russlands international orientierte Kunst, die Ekaterina Degot, inzwischen Intendantin des Steirischen Herbstes, 1999 als "Sphäre des Westlertums" bezeichnete, wurde angesichts der Konfrontation mit dem Westen an den Rand gedrängt. Der Umstand, dass sie zu einem Marker für politische Illoyalität avancierte, war einer der Gründe für das weitgehende Verschwinden eines diesbezüglichen Kunstmarkts in Russland.

Parallele Prozesse ließen sich auch in der Architektur beobachten. Gigantomanische und teils spektakuläre Prestigebauten wie die olympischen Objekte in Sotschi (2014), die Wolkenkratzer in Moskaus City oder im Petersburger Lachta-Zentrum entstanden zwar in einer zeitgenössischen internationalen Architektursprache, richteten sich aber insbesondere an das Ausland und kommunizierten, dass Russland in globale Finanzströme integriert ist.

Die eigentlichen Vorlieben der Wirtschaftskapitäne sahen anders aus. Experimente von Stararchitekten, die als ästhetischer Ausdruck von Dissidenz wahrgenommen werden könnten, sind die Ausnahme.

Privatpaläste des Neoklassizismus

Für ihre Privatpaläste setzen die Reichen und Mächtigen der Putin-Ära auf einen nationalen Neoklassizismus. Im Höchstpreissegment imitierten No-Name-Architekten zunächst das unter Peter dem Großen errichtete Schloss Peterhof, das seinerseits Versailles nachempfunden worden war. Mittlerweile sind an Vorbilder aus der Stalin-Zeit erinnernde Spielarten dieses Stils aber auch bei Mehrfamilienhäusern angekommen, die für betuchte Manager staatlicher Konzerne konzipiert werden.

Dass Neoklassizismus für die bürokratischen Eliten einen zunehmend offiziellen Status einnimmt, illustrieren die Souvenirprospekte der Wirtschaftsabteilung der russischen Präsidentschaftskanzlei: Für 3000 Euro werden an das frühe 19. Jahrhundert erinnernde Schreibtischsets von mittlerweile fragwürdiger Funktionalität verkauft, die man idealerweise einem russischen Ministerialrat zur Pensionierung schenken würde.

Keiner kann Säulen

"Versuche, einen spätstalinistischen Stil zu imitieren, gibt es tatsächlich", kommentiert der Petersburger Architekt und Architekturhistoriker Maxim Atajanz im Gespräch mit dem STANDARD. Er glaubt aber nicht, dass diese Stilwahl zunächst von Bauherren ausgegangen sei. Diese verfügten über keinen entwickelten Architekturgeschmack. "Architekten, die sich mit dieser ‚Klassik‘ beschäftigen, haben ein gutes Gespür für die Konjunktur, zeigen aber oft jedoch Gleichgültigkeit in Bezug auf Qualität", beklagte Atajanz. Seit der Entstalinisierung sei in Russland zudem niemandem mehr beigebracht worden, wie Häuser mit Säulen zu bauen seien.

Gleichzeitig ortet der Petersburger, der selbst als Anhänger klassischer Ästhetiken gilt, ein Paradoxon. "Die russische Architektenszene selbst ist mehrheitlich gegen klassische Architektur eingestellt", sagt er, Russland stehe aber an der Schwelle zu interessanten Entwicklungen. So die aktuelle politische Konstruktion halte, könnte es bald auch eine staatliche Architekturpolitik geben, meint Atajanz. (Herwig G. Höller, 21.4.2020)