So hemdärmelig wie sein Auftritt sei Anders Tegnell auch mit der Gesundheit der Schweden, wird ihm vorgeworfen. Das dürfte nicht stimmen.

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Er ist das Gegenteil des "strengen Vaters", den Kanzler Sebastian Kurz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und zahllose italienische Lokalpolitiker in der Corona-Krise derzeit gern zum Besten geben. Anders Tegnell ist trotzdem für viele Schwedinnen und Schweden zum Gesicht des Kampfes gegen die Corona-Krise geworden.

Seit Wochen tritt der schwedische Staatsepidemiologe – der führende Angestellte der weitgehend politikautonomen Gesundheitsbehörde – fast jeden Tag im Fernsehen auf. Seitdem vermeidet er dabei strikte Worte und setzt auf Verantwortungsgefühl statt auf Zwang. Für den Verzicht auf ebenso harte Anti-Corona-Maßnahmen wie bei vielen Nachbarn steht der 63-Jährige in der Kritik.

Auch viele ausländische Medien sind auf den Experten aufmerksam geworden, dessen Linie so besonders vom Mainstream-Kampf gegen die Pandemie abzuweichen scheint. Eine etwas zu offensichtliche Metapher darf dabei nie fehlen, die auf Tegnells charakteristischen Auftritt im Strickpullover statt im Anzug verweist: Genauso hemdsärmelig wie sein Kleidungsstil sei sein Umgang mit der existenziellen Gefahr, die von der Corona-Epidemie ausgehe. Das ist vermutlich unfair – oder zumindest verkürzt.

Langzeitschäden auch durch Quarantäne

Die Ansicht, er würde Menschenleben gegen wirtschaftlichen Vorteil tauschen, stellt Tegnell in seinen Auftritten zunehmen genervt in Abrede. Er verweist auf seine Erkenntnisse für die Weltgesundheitsorganisation bei Masern in Laos, Ebola im Kongo und der H1N1-Grippe 2009 in Schweden. Man brauche nachhaltige Maßnahmen und dürfe nicht vergessen, dass auch strenge Verbote gesundheitliche Folgen haben: Isolation und Quarantäne könnten Langzeitschäden bei Körper und Geist auslösen.

Zudem gehe es um den vielbeschworenen Marathon: Schwedens Maßnahmen ließen sich problemlos lange durchhalten – eine zweite Welle brauche man anders als die Nachbarn nicht zu befürchten. Den Fehler, Seniorenheime nicht ausreichend geschützt zu haben, hat er dagegen eingestanden.

Mag sein, dass auch eine andere Entscheidung bei Tegnells Vorsicht mitschwingt: 2009 hatte er eine Massenimpfung von fünf Millionen Schweden gegen H1N1 durchgesetzt, 500 der Geimpften litten danach an Narkolepsie. Die Entscheidung hat er stets mit dem Argument verteidigt, es wären sonst Hunderte gestorben. Die fast 1.600 Corona-Toten im Land sieht er dennoch nicht als Grund, von seinem Kurs abzuweichen. (Manuel Escher, 21.4.2020)