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Die Verkaufsstände sind geschlossen, das hat eine geringere Druckauflage zur Folge.

Foto: AP/Dunham

Mit einem ungewöhnlichen Appell hat sich der britische Kulturminister an die Bürger und wichtigsten Firmen des Landes gewandt. Da lokale, regionale und nationale Zeitungen durch das Coronavirus "mit der schwersten Existenzkrise ihrer Geschichte" konfrontiert seien, so Oliver Dowden, sollten die Briten ihren Einkaufslisten unbedingt auch eine Tageszeitung hinzufügen. An Unternehmen und Werbeagenturen richtet der Minister die Aufforderung, Onlineanzeigen im Umfeld von Artikeln über Covid-19 zuzulassen.

Wie andernorts auch erleben viele britische Zeitungen in der Sars-CoV-2-Krise derzeit ein Paradox: Einerseits haben ihre Websites Rekordnachfragen, andererseits brechen die Anzeigenerlöse ein. Trotz Kurzarbeit ist die Existenz vieler Verlagshäuser bedroht. Angaben der Lobby-Organisation NMA zufolge sind die Anzeigenerlöse seit Ausbruch der Pandemie um bis zu 90 Prozent zurückgegangen – und dies in einer Branche, deren Umsatz zu mehr als der Hälfte und häufig weit darüber hinaus von Werbung abhängig ist. Auch die Druckauflage musste vielerorts um ein Viertel gesenkt werden, weil viele Zeitungsläden geschlossen sind.

Ausgetrocknete Erlöse

Große Unternehmen wie der Einzelhandelsriese Tesco oder Versandgigant Amazon und deren Werbeagenturen reagierten auf die Krise in bewährter Manier: Im Umfeld von Berichterstattung über negative Ereignisse dürfen online keine Anzeigen erscheinen. Da die Nachrichtenagenda im Zeichen von Corona mehr als sonst von Negativem diktiert wird, trockneten die Anzeigenerlöse wegen dieses sogenannten "Ad-Blocking" bald aus. Brancheninsider sprechen von Verlusten von bis zu 50 Millionen Pfund (57,5 Millionen Euro). Unternehmen wie die Nachrichtenagentur PA sowie die Londoner Abendzeitung "Evening Standard" haben bereits Angestellte in die Kurzarbeit geschickt.

Echokammern

Das Vorgehen von Industrie und Werbung sei ungerechtfertigt, findet der Minister. In einem Brief an die 100 wichtigsten Unternehmen des Landes forderte er die Verantwortlichen dazu auf, ihre Anzeigen im Umfeld von Artikeln über Covid-19 zuzulassen. Schließlich sei unabhängige Berichterstattung "im Zeitalter von Online-Echokammern" unerlässlich für die Medienvielfalt im Land und im Kampf gegen die verbreitete Falschinformation im Internet, schreibt der Minister in einem Beitrag für die konservative "Times". Die bekanntermaßen robuste Presse des Landes erhält sogar eine Art Ritterschlag: Die Medien stellten nach Polizei, Feuerwehr und Gesundheitswesen "den vierten Hilfsdienst" dar, glaubt Dowden.

Regierungsinserate

Die konservative Regierung unter Premier Boris Johnson geht mit gutem Beispiel voran: Seit Wochen enthalten die Tageszeitungen, darunter auch Regierungskritische Titel wie der "Guardian", ganzseitige Informationsanzeigen, die zu größerer Distanz und zur Einhaltung des Lockdowns aufrufen. Den Bürgern legt der Minister ans Herz, sie sollten ihren eigenen Beitrag leisten: "Ich schlage vor, dass wir alle eine Zeitung kaufen."

Dass die sprichwörtliche "vierte Gewalt" von Johnsons Regierung gelobt und, jedenfalls indirekt, gefördert wird, stellt eine politische Umwälzung dar. Noch zu Jahresbeginn schien es, als wollten sich die Konservativen bei unliebsamen Medien, darunter auch der weltberühmten BBC, für kritische Berichterstattung im Vorfeld der Unterhauswahl im Dezember revanchieren. Alle Kabinettsminister boykottierten noch Ende Februar sämtliche Politikprogramme des öffentlich-rechtlichen Senders; Johnsons Chefberater Dominic Cummings verbot Spitzenbeamten und politischen Beratern den Umgang mit der Hauptstadtpresse.

Alles passé: Mittlerweile sind, in Abwesenheit des schwererkrankten Premiers, wichtige Minister wie Dominic Raab und Michael Gove wieder auf allen Kanälen zu sehen. In der Krise hat die BBC noch in anderer Hinsicht profitiert. Die Nachrichtenflaggschiffe des bekanntesten Senders der Welt um 18 und 22 Uhr erfreuen sich seit Mitte März um 74 und 50 Prozent höherer Einschaltquoten. Zusammengenommen werden die Sendungen derzeit von 12,8 Millionen Briten konsumiert. (Sebastian Borger aus London, 21.4.2020)