Peter Resetarits moderiert seit 2007 die wöchentliche ORF-Sendung "Bürgeranwalt".

Foto: ORF / Roman Zach-Kiesling

STANDARD: In Los Angeles lautet eine Grundregel, sich bei Interesse an einem Haus zuerst nach der Nachbarschaft zu erkundigen. Halten Sie das auch hierzulande für ratsam?

Peter Resetarits: Auf jeden Fall! Es gibt Menschen, die einem das Leben zur Hölle machen.

STANDARD: Wie sieht so eine Hölle aus?

Resetarits: Ich weiß von einem Mann in Wien, der nachts mit einem Gummihammer gegen die Wände haut und das ganze Haus narrisch macht.

STANDARD: Warum rufen die Leute nicht die Polizei?

Resetarits: Das tun sie. Wenn die eintrifft, ist er natürlich mucksmäuschenstill, und die Polizei rückt wieder ab.

STANDARD: Und dann?

Resetarits: Dann verständigt dieser Mensch die Polizei und regt sich auf, dass die Nachbarn laut wären. Man möge mir die Ausdrucksweise verzeihen, aber der Mann ist verhaltensoriginell.

STANDARD: Was ist die Lösung in so einem Fall?

Resetarits: Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber es gibt Menschen, die verkaufen ihre Wohnung unter Preis, andere kündigen ihre Mietverträge, nur damit sie aus dem Haus rauskommen.

STANDARD: Was ist mit dem Gesetz?

Resetarits: Wissen Sie, wie lange sich eine Gerichtsverhandlung in einem solchen Fall ziehen kann? Über Jahre. Gerichtstermine werden abgesagt, weil so ein Mensch am Verhandlungstag umkippt und die Rettung ruft. Drei Monate später bricht er vor Gericht zusammen. Dann ist Sommerpause et cetere. Wieder ein paar Monate später lehnt der Beklagte den Richter wegen Befangenheit ab, und inzwischen werfen schon wieder ein paar Nachbarn das Hangerl. Das Ärgste ist: Recherchen haben ergeben, dass der Mann, von dem ich erzählte, schon in anderen Wiener Häusern den puren Horror verbreitete. Angeblich hat er 270 unnötige Polizeieinsätze verursacht.

STANDARD: Das klingt zum Fürchten. Das heißt, man sollte sich die Nachbarschaft in der Tat gut anschauen. Aber wie soll das gehen? Man kann ja nicht anläuten und fragen, ob jemand einen Knall hat.

Resetarits: Ich glaub schon, dass man das machen sollte. Ich würde es tun. Vielleicht anders formuliert.

STANDARD: Und wie?

Resetarits: Ich würde bei den Nachbarn fragen, wie die Hausgemeinschaft so beschaffen ist, ob es irgendwelche Probleme gibt, Altlasten, unangenehme Nachbarn. Ich habe in den vergangenen 25 Jahren alles Übel erfahren, das es zu erfahren gibt.

STANDARD: Was halten Sie in extremen Fällen von Eigeninitiative? Der Schauspieler Steve McQueen griff angeblich einmal zur Waffe, weil sein Nachbar Keith Moon, der Drummer von The Who, ihn nachts ständig am Schlafen hinderte. Zuvor hatte er es mit Vernunft versucht.

Resetarits: Ich würde nie mit Aggression vorgehen. Jede solche Aktion fördert eine Reaktion, denn die meisten werden sich so etwas nicht gefallen lassen. So etwas schaukelt sich in der Regel hoch und landet nicht selten vor Gericht. Ich halte es für gescheit, lieber einen Schritt zurückzutreten, als den Horror zu riskieren. Wenn der Nachbar nicht will, dass man die Hecke zu niedrig schneidet, dann lässt man es halt. Das kann sich auszahlen.

STANDARD: Sollte man sich bei Nachbarn generell vorstellen, wenn man neu in einem Haus eingezogen ist?

Resetarits: Ich halte es für sinnvoll, mit Brot, Salz oder irgendeiner Kleinigkeit vorstellig zu werden. Das ist etwas Symbolisches. Aber noch einmal: Vorher schauen Sie sich das Umfeld bitte an. Es ist doch furchtbar, wenn man sich fürchten muss, wenn man die Wohnung verlässt oder nach Hause kommt.

STANDARD: Was sind denn die gängigsten Konfliktpotenziale?

Resetarits: Lärm ist natürlich ein Spitzenreiter. Hunde sind auch gut im Rennen. Ich weiß ferner von einer Frau, die 300 Vögel in ihrer Wohnung hatte. Oft geht es auch um Zaungrenzen oder Baumpflanzungen, Blätter, die zum Nachbarn von Bäumen fallen ... ein Never-Ending-Thema.

STANDARD: Ist der böse Nachbar ein bestimmter Typus Mensch?

Resetarits: Empirisch kann ich es nicht bestätigen, aber ich habe den Eindruck, dass zu diesem Typus eher Männer zählen, die viel Zeit haben, in erster Linie also Pensionisten. In dieser Gruppe sind besonders viele Rechthaber zu finden, wenn es um Besitzrechte et cetera geht. Kaufte ich mir eine Immobilie, wäre ich skeptisch, wenn ich einen Nachbarn hätte, der ständig im Blaumann im Garten herumwerkt. Noch einmal: Da gilt es schon herauszufinden, ob es mit dem Brösln geben könnt.

STANDARD: Wann haben Sie zum letzten Mal bei einem Nachbarn um Milch oder Eier gebeten?

Resetarits: Bei mir passierte so etwas gerade umgekehrt. Ich habe in einem nahen Gemeindebau einen Nachbarn, der mich immer wieder mal kontaktiert. Er hat mich auf ein Angebot in einem Supermarkt hingewiesen. Weil er mittlerweile auf Krücken geht, habe ich ihm dort zwei Flaschen Apfelessig, Bananen, Orangen, Joghurt und noch etwas besorgt und ihm vor die Tür gestellt.

STANDARD: Wegen Corona?

Resetarits: Ja! Der Mann ist einsam, hat meine Telefonnummer und mich angerufen.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Corona-Krise und die Ausgangsbestimmungen Einfluss auf die nachbarschaftlichen Beziehungen haben? Und wenn ja, wie sehen die aus?

Resetarits: Aus dem Bauch heraus würde ich schon sagen, dass es die Beziehungen verbessert. Ich habe den Eindruck, dass sich die Menschen in meiner Umgebung schon mit der Frage auseinandersetzen, wie man wen unterstützen kann. Das befördern ja auch die Medien. Ich denke, da hat sich durchaus etwas Positives bewegt.

STANDARD: Wird das halten?

Resetarits: Das weiß ich nicht. Ob das umschlägt, wenn die Alten sagen: 'Ihr habt uns das Falsche eingekauft', und die Jüngeren meinen: 'Ihr könnts uns gern haben' – gute Frage.

STANDARD: Aber Sie glauben noch an das Gute im Nachbarn?

Resetarits: Momentan ja. Aber wie gesagt, wenn das alles noch lange dauert, also wenn ich zum 240. Mal für den Herrn zum Supermarkt gehen muss, schaut das vielleicht wieder ganz anders aus.

STANDARD: Wer ist der perfekte Nachbar?

Resetarits: Auch wenn es ausweichend klingt: Es ist wie bei allem im Leben. Es geht um das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz, und das hängt wiederum von individuellen Beschaffenheiten der Nachbarn ab. Mit manchen möchte man mehr Nähe haben, sie zum Essen einladen, bei manchen genügt es, freundlich zu grüßen und ein paar Worte zu wechseln, bei wieder anderen ist schon der freundliche Gruß genug. Das gehört gut austariert. (Michael Hausenblas, RONDO, 21.4.2020)