Eine Frau mit einbandagiertem Gesicht in dem österreichischen Thriller "Ich seh Ich seh" (2014): Ist sie die Mutter oder, wie die Söhne befürchten, eine Fremde?

Foto: ORF / Ulrich Seidl Film

Im österreichischen Psychothriller "Ich seh Ich seh" (2014) kommt eine Frau mit einbandagiertem Gesicht – wahrscheinlich nach einer Schönheitsoperation – aus der Klinik nach Hause zurück. Ihre etwa zehnjährigen Zwillingssöhne bezweifeln, dass die Person unter dem Verband tatsächlich ihre Mutter ist: eine unheimliche Situation, die sich im Film zur Horrorgeschichte auswächst.

Das Unheimliche, schrieb Sigmund Freud, sei die Negation des "Heimlichen". Wobei dieses Heimliche selbst aber doppeldeutig sei: Einerseits bezeichne es das Heimatliche, Heimelige, Vertraute, andererseits das Verheimlichte und Verborgene.

Nach Freud ist das Unheimliche die Wiederkehr dessen, was aus der vertrauten Welt verdrängt wurde. Die Familie ist der Inbegriff des Vertrauten, und das Eindringen des Unbekannten und Unberechenbaren verwandelt den einst heimeligen in einen unheimlichen Ort.

Mehr noch als die vertrautesten Menschen ist unser eigener Körper ein "heimatlicher Ort", der vor dem Eindringen des Fremden, aktuell vor allem in Form des Coronavirus, mit allen Mitteln geschützt werden muss. Andere Körper werden zur potenziell lebensbedrohlichen Gefahr, der öffentliche Raum zum Krisengebiet. Das Vertraute erfährt einen Bruch, durch den das Unheimliche schimmert.

Gespaltene Welt

"Allen Definitionen des Unheimlichen ist gemeinsam, dass sie die Vorstellung einer gespaltenen Welt entwickeln", erklärt Christoph Leitgeb vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW): "in eine Wirklichkeit, die wir als unsere normale kennen, und in eine andere, die wir nicht verstehen, die untergründig ist und sich unserem Zugriff entzieht." Das Virus teile unsere Welt in eine "gesunde" und eine "angesteckte", lasse uns die Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben verlieren.

Damit wird die Sache politisch: "Diese Spaltung kann dazu führen, dass man das Unheimliche grundsätzlich mit dem von außen kommenden Fremden identifiziert." Eine Genesung scheint dann nur durch das radikale Aussperren und Stigmatisieren von allem Fremden möglich.

So macht etwa Viktor Orbán illegale Migranten, ausländische Studenten, liberale Oppositionspolitiker und den jüdisch-ungarischen US-Milliardär George Soros für die Ausbreitung des Coronavirus in Ungarn verantwortlich.

Graubereich

Nach dem französischen Philosophen Jacques Derrida bewirke eine solche "totalitäre" Spaltung der Welt in eine sichere und eine gefährliche vor allem eines: die Eskalation des Unheimlichen.

Um das zu vermeiden, müsse man lernen, mit dem Fremden innerhalb des Vertrauten umzugehen – sich also in einem nie ganz eindeutigen Graubereich zu bewegen und auch mit dem Unheimlichen, Angesteckten zu kommunizieren.

"Die Supermarktkassiererinnen oder das Gesundheitspersonal können sich jetzt schließlich auch nicht zu Hause einigeln", so Christoph Leitgeb.

In seiner Beschäftigung mit dem Phänomen des Unheimlichen und dessen Theoriegeschichte hatte der Germanist natürlich nicht die politischen und psychischen Folgen der Pandemie im Fokus, sondern die literarische Auseinandersetzung mit einem lange verdrängten Kapitel unserer Geschichte: dem Nationalsozialismus.

Wie die aktuelle Ausnahmesituation führt auch der literarische Umgang mit einer "kranken" Vergangenheit in die Gefilde des Unheimlichen.

Erinnerung an die NS-Zeit

In seinem eben erschienenen Buch "Unheimliche Erinnerung – erinnerte Unheimlichkeit" hat sich Christoph Leitgeb vor allem mit der Frage beschäftigt, wie die Erinnerung an den Nationalsozialismus überliefert und neu konstruiert wird. Die Vorstellung, die dabei den abgespaltenen Raum eines "Heimlichen" erzeugt, möchte die Welt rigoros in ein "Danach" und ein "Davor" trennen oder in eine Welt der Opfer und der Täter.

"In Elfriede Jelineks 'Kinder der Toten' steckt sich schon die Sprache an der Unmöglichkeit dieser Trennung an." Und der Kärntner Autor Josef Winkler greift in seinem Roman "Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe" die lange verschwiegene Geschichte des NS-Massenmörders Odilo Globocnik auf, dessen Leichnam im Mai 1945 auf einem Acker in der Nähe von Winklers Heimatdorf Kamering vergraben wurde.

Ein zentraler Text in Leitgebs Untersuchung ist auch der 2010 erschienene 800-Seiten-Roman "Heldenfriedhof" von Thomas Harlan. "Bei kaum einem anderen der von mir interpretierten Texte ist das gespenstische Fortleben der Täter so unmittelbar unheimlich gestaltet", erklärt der Wissenschafter.

Bemerkenswerte Biografie

Bemerkenswert ist auch die Biografie dieses Autors. Ist er doch der Sohn des Regisseurs Veit Harlan, der mit Propagandafilmen wie "Jud Süss" eine steile Karriere im NS-Staat machte.

Zu seinem Vater hatte der Autor ein zugleich enges und kompliziertes Verhältnis. "Thomas Harlan hat sehr früh nach dem Krieg in polnischen Kriegsarchiven recherchiert", berichtet Leitgeb. "Seine akribisch recherchierte Dokumentation über die Nachkriegskarrieren der Kriegsverbrecher konnte er zwar nicht fertigstellen, aber kurz vor seinem Tod 2010 hat er den Roman "Heldenfriedhof" geschrieben, in den seine Recherchen eingeflossen sind."

Wie bei Josef Winkler spielt auch in "Heldenfriedhof" Odilo Globocnik eine zentrale Rolle. Als Leiter der "Aktion Reinhardt" zur Judenvernichtung im besetzten Polen unterstanden ihm die Vernichtungslager Sobibor, Treblinka und Belzec. "Nach dem Zusammenbruch der Ost-Front ist Globocnik in Triest gelandet, wo er mit seiner SS-Verbrecherbande das größte KZ Italiens betrieben hat, die Risiera di San Sabba."

Schrecken des Ortes

Wie auch Claudio Magris in seinem Roman "Verfahren eingestellt" beschreibt Harlan, wie sich die Massenmörder in dieser Vernichtungsfabrik einrichten: mit Hirschgeweihen und anderen Insignien (klein)bürgerlicher Gemütlichkeit. Eine Kulisse, die den Schrecken des Ortes um die Dimension des Unheimlichen erweitert.

Harlan erzählt auch von der Rückkehr dieser NS-Verbrecher nach Österreich und Deutschland und ihrem Fortleben nach dem Krieg. "Einer betrieb bis in die 1970er-Jahre als angesehener Bürger das Tanzcafé Lerch in Klagenfurt", erzählt Christoph Leitgeb. Ein anderer Kärntner Schriftsteller, Werner Kofler, hat daraus den Theatertext "Tanzcafé Treblinka" gemacht.

"In den letzten Jahren beschäftigen sich zahlreiche Romane mit dem Unheimlichen der Tätergeschichten", resümiert der Wissenschafter. Die Autoren "beschreiben, wie NS-Täter die Alltagswirklichkeit nach dem Krieg infiltrierten, und unterlaufen eine einfache Abgrenzung von ihrer Geschichte".

Mit dieser Rückholung der verdrängten Erinnerung legitimiere die Literatur aber keinesfalls ein abschließendes Vergessen der "aufgearbeiteten" Vergangenheit, wie es eine bestimmte psychoanalytische Tradition nahelegt. Sie lehre uns vielmehr, mit den Gespenstern zu leben, die Graubereiche in der Konstruktion unseres Gedächtnisses zu akzeptieren und mit dem Fremden und Infizierten umzugehen. "Autoren, die wie Harlan in der Tradition des Unheimlichen schreiben, halten das Verdrängte virulent." (Doris Griesser, 23.4.2020)