So könnte die "Werft" aussehen, in der Objekte wie ʻOumuamua in hoher Stückzahl vom Band gingen – und alles auf ganz natürliche Weise.
Illustration: YU Jingchuan/Beijing Planetarium

Avi Loeb bleibt hartnäckig. Der Astrophysiker von der Harvard University bekräftigte diese Woche gegenüber dem britischen "Express" seine Ansicht, dass man nicht ausschließen könne, dass es sich beim Objekt ʻOumuamua um ein künstliches Konstrukt handelt. Was angesichts dessen extrasolaren Ursprungs bedeuten würde: von Außerirdischen gebaut. Das war freilich bereits 2017, als ʻOumuamua in unserem Sonnensystem auftauchte, eine Minderheitsmeinung. Und heute findet man kaum noch einen Wissenschafter, der Loeb in diesem Punkt unterstützen würde.

ʻOumuamua – was auf Hawaiianisch in etwa "erster Erkunder" bedeutet – war das erste Objekt, dem aufgrund seiner Flugbahn eine extrasolare Herkunft nachgewiesen werden konnte. Es gibt zwar verschiedene Hypothesen, dass der eine oder andere schon länger bekannte Himmelskörper in unserem Sonnensystem – etwa der Zwergplanet Sedna – ursprünglich in einem anderen Sternsystem entstanden sein könnte. Die Sonne habe sie in der Frühzeit unseres Sonnensystems eingefangen, als ihr die zeitgleich mit ihr entstandenen Nachbarsterne noch nahe waren. Das sind aber nur Spekulationen – ʻOumuamua hingegen kam eindeutig von außerhalb.

Auffällige Besonderheiten

Und er hat einige ungewöhnliche Eigenschaften. Wenn die Messungen seiner Helligkeitsschwankungen richtig interpretiert werden (was nicht hundertprozentig gesichert ist), handelt es sich um ein zigarrenförmiges Objekt mit einem Achsenverhältnis von 5:1 bis 10:1. Angaben zur Länge reichen von 100 bis 1.000 Meter. Nichts in unserem Sonnensystem hat eine solche Form, soweit bisher bekannt.

Weiters zeigt die Bahn des dahintaumelnden ʻOumuamua Abweichungen vom Erwarteten. Er wird auf seinem Weg aus unserem Sonnensystem nicht ganz so langsam, wie er es müsste, wenn seine Bahn ausschließlich durch äußere Schwerkrafteinwirkung bestimmt wäre. Forscher vermuten, dass es zu Ausgasungen aus seinem Inneren kommt, die dem Objekt wie schwache Raketendüsen einen kleinen Schub verpassen.

Allerdings konnten solche Ausgasungen nicht direkt festgestellt werden. Während ein herkömmlicher Komet in Sonnennähe durch seinen Materialausstoß eine weithin sichtbare Coma bildet, wirkt ʻOumuamua wie ein stabiler Festkörper mit gleichförmiger Oberfläche.

Neues Modell

Im Fachmagazin "Nature Astronomy" hat ein internationales Forscherteam ein Modell vorgestellt, das alle diese Eigenschaften unter einen Hut bringen und ʻOumuamua trotzdem einen rein natürlichen Ursprung zuweisen würde. Dafür bräuchte es eigentlich nur die Schwerkraft und die Hitze eines Sterns.

Das Grundprinzip sieht laut Zhang Yun von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und Douglas Lin von der University of California so aus: Wenn ein kleinerer Himmelskörper einem Stern zu nahe gekommt, wird er durch die auf ihn einwirkenden Gezeitenkräfte gedehnt und schließlich so instabil, dass er zerbirst. Es sei derselbe Effekt, der den Kometen Shoemaker-Levy 9 in Jupiternähe zerbrechen ließ, ehe seine Fragmente 1994 in den Gasriesen stürzten.

So würde der vorgeschlagene Prozess aussehen, der aus einem ursprünglichen Objekt eine Reihe von Fragmenten in der Form ʻOumuamuas macht.
Illustration: Zhang Yun

Im hypothetischen Heimatsystem von ʻOumuamua zerfiel der ursprüngliche Himmelskörper demnach in eine Kette länglicher Objekte. Zugleich ließ die Hitze des nahen Sterns ihre Oberflächen aufschmelzen und den größten Teil der in ihnen enthaltenen flüchtigen Verbindungen ausdampfen, vor allem Wasser. Diejenigen Fragmente, die nicht in den Stern stürzten, sondern davongeschleudert wurden, kühlten rasch wieder ab. Es bildete sich die feste Kruste, die ʻOumuamua in seiner bizarren Form dauerhaft zusammenhielt – die Forscher ziehen den Vergleich zum Überzug einer Schokobohne.

Die Restmenge an flüchtigen Verbindungen blieb eingeschlossen, und erst durch die Nähe zu einem anderen Stern – unserer Sonne – konnten diese wieder in geringer Menge austreten. Es war zu wenig für die Bildung einer imposanten Coma, aber genug für den einen oder anderen kleinen Schub, den ʻOumuamua auf seiner Bahn erhielt. Zhang Yun spricht von einem "aktiven Asteroiden" – ein Kompromissvorschlag für die hin und her wogende Debatte, ob der interstellare Besucher nun ein Komet oder ein Asteroid sei.

In ihr Modell setzten die Forscher ganz verschiedene Klassen von Himmelskörpern ein: Planetesimale (nur wenige Kilometer durchmessende Vorstufen von Planeten), große Kometen und sogar Planeten im Format einer Supererde. Sie alle würden laut den Forschern theoretisch für die Bildung zigarrenförmiger Objekte wie ʻOumuamua in Frage kommen.

Einer unter Billionen?

Dieser ganz natürliche "Bauprozess" klingt vielleicht nicht so attraktiv wie Loebs Vorschläge, dass es sich bei ʻOumuamua um eine interstellare Raumsonde oder um ein dahintrudelndes Sonnensegel aus außerirdischer Fertigung handeln könnte. Aber auch das in "Nature Astronomy" vorgestellte Modell hat seine spektakulären Aspekte. Die Forscher sehen durch dieses nämlich frühere Berechnungen gestützt, wonach man die Zahl felsiger Objekte, die durch den interstellaren Raum ziehen, bislang weit unterschätzt habe.

Zhang Yun glaubt, dass jedes Sternsystem im Schnitt hundert Billionen Objekte wie ʻOumuamua in den Leerraum schleudert. Der interstellare Besucher wäre damit nur Teil einer gigantischen Flotte, die sich freilich über ein noch gigantischeres Stück Milchstraße verstreut. Für die Zukunft sei daher die Sichtung vieler weiterer solcher Objekte zu erwarten. Tatsächlich wurde schon im Sommer 2019 ein zweiter interstellarer Besucher entdeckt – auch wenn 2I/Borisov anders als ʻOumuamua ein ganz normaler Komet ist (nur eben von außerhalb).

Und zu guter Letzt hat die University of California auch nicht davor zurückgeschreckt, den Begriff "Panspermie" fallen zu lassen. Dieses bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Konzept geht davon aus, dass das Leben durch interstellaren Transport – welcher Art auch immer – im Universum gleichsam ausgesät wurde. Objekte wie ʻOumuamua könnten einfache Grundbausteine des Lebens in sich tragen, die sie dann freisetzen, wenn sie in die Wärme der habitablen Zone um einen anderen Stern gelangen. (jdo, 26. 4. 2020)