Die aktuellen Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus treffen auch Kleinkinder hart. Durch die Schließung der Kindergärten seit Mitte März sind Spielen und Toben nur noch drinnen – mit den Eltern – erlaubt. Viele Spielplätze sind abgeriegel, "Play Dates" verboten.

Wann und wie die Kindergärten wieder geöffnet werden, entscheiden die Länder. In Wien sollen die Kindergärten ab 4. Mai unter anderem für Kinder von berufstätigen Eltern, Alleinerzieherinnen und aus Familien in Belastungssituationen zur Verfügung stehen.
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Die Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl zeigt sich besorgt. Gerade für gefährdete und überforderte Familien ist der Kindergarten in einer derartigen Krisensituation ein wichtiger Ankerpunkt. Im Interview erklärt sie, welche Auswirkungen es auf Kleinkinder hat, wenn diese längere Zeit nicht mit Gleichaltrigen spielen dürfen, und wie Eltern dem Nachwuchs die Zeit in Isolation erleichtern.

STANDARD: Man sagt ja oft, der beste Platz für ein kleines Kind ist daheim. Ist ein Kindergarten nur eine Aufbewahrungsstätte?

Höhl: Kinder profitieren nachweislich davon, wenn sie den Kindergarten besuchen. Zum einen sind es die sozialen Kontakte zu gleichaltrigen Kindern und zum anderen das pädagogische Angebot sowie ein möglicher Förderbedarf vor der Einschulung. In Studien zeigt sich auch, dass Kindergartenkinder im Schnitt später einen größeren Schulerfolg haben als jene Kinder, die nicht den Kindergarten besuchten.

STANDARD: Wie schlimm ist es dann für kleine Kinder, wenn sie so lange zu Hause isoliert sind wie in den letzten Wochen?

Höhl: Eine Unterbrechung des Kindergartens von mehreren Wochen oder gar Monaten ist aus entwicklungspsychologischer Sicht grundsätzlich nicht kritisch. Man kennt solche Pausen ja auch von längeren Ferien oder Reisen. Ich bin allerdings wirklich erleichtert, dass nun von der Regierung ein Schritt in Richtung Öffnung gegangen wurde, weil es viele Eltern gibt, die ihren Kindern in der Isolation nicht die benötigte Struktur, Sicherheit und Fürsorge geben können. Es gibt genug Kinder in Österreich, die durch die Abschottung zum Kindergarten vernachlässigt oder gefährdet sind.

STANDARD: Das heißt, es ist für manche Kinder gut, wenn sie weiter zu Hause bleiben?

Höhl: Ich finde einfach, dass es eine differenzierte Betrachtungsweise braucht. Eine Familie mit zwei Kindern, vielleicht noch ein Garten, die beiden Eltern zu Hause und stabil, erlebt die Corona-Isolation natürlich ganz anders und vielleicht sogar positiv. Wenn es allen gut geht, spricht nichts dagegen, wenn die Kinder noch länger zu Hause bleiben. Aber für eine berufstätige Alleinerzieherin, die schon vor der Krise stark überfordert war, kann die wochenlange Isolation der pure Albtraum sein. Viele Eltern sind psychisch nicht stabil, haben vielleicht ihren Job verloren oder leiden unter großen Ängsten. Für solche Kinder ist der Kindergarten mehr als eine Aufbewahrungsstätte.

Eine schrittweise Öffnung der Kindergärten für genau diese Kinder, wie es in Wien ab 4. Mai der Fall ist, kann ich aus psychologischer Sicht nur begrüßen.

STANDARD: In Wien sollen die Kindergärten unter anderem auch für Einzelkinder öffnen. Wie wichtig ist für kleine Kinder denn der Kontakt zu anderen Kindern?

Höhl: Unter dreijährige Kinder spielen auch in Betreuungseinrichtungen häufig eher nebeneinander statt miteinander. Sie machen zwar bereits substanzielle Interaktions- und Spielerfahrungen mit anderen Kindern, dennoch sind sie nicht unbedingt auf den sozialen Kontakt mit Gleichaltrigen angewiesen – die Eltern sind noch das Zentrum der Welt. Bei berufstätigen Eltern ist dies natürlich über den Tag hinweg nur eingeschränkt möglich. Und man darf nicht vergessen: Die Betreuung von Kindern ist ein Vollzeitjob! Bei den drei- bis sechsjährigen Kindern spielt das kooperative Spielen eine immer größere Rolle und nimmt mit fortschreitendem Alter weiter zu. Für Kinder, die sich gerade im verpflichtenden Kindergartenjahr befinden, weil sie auf die Schule vorbereitet werden, ist das gemeinsame Spiel und das voneinander Lernen besonders wichtig.

STANDARD: Zudem ist man ständig zu Hause, die Kinder bewegen sich weniger. Welche Auswirkungen hat das?

Höhl: Auch dieser Punkt sollte unbedingt zur Diskussion gebracht werden. Kinder jedes Alters brauchen Bewegung. Vor allem bei kleinen Kindern gibt es zudem die Sorge, dass die motorische Entwicklung durch die Isolation nicht ausreichend gefördert wird. Schließlich sind nicht nur seit Wochen die Kindergärten zu, sondern auch die Spielplätze. Das kann für Familien in einer kleinen Stadtwohnung schnell zur Zerreißprobe werden. Mein Appell an alle Eltern lautet: Lassen Sie Ihr Kind an der frischen Luft toben! Hier sind natürlich Menschen mit Garten klar im Vorteil, aber auch Familien in der Stadt sollten mit den Kindern regelmäßig an die frische Luft gehen und sie herumlaufen lassen.

STANDARD: Selbst draußen dürfen Kinder aber nicht miteinander spielen …

Höhl: Und das ist wiederum vor allem für Einzelkinder hart. Wer im Mai sein Kind noch nicht in den Kindergarten geben kann oder will, für den gibt es eventuell eine andere Idee: Mir ist nun schon öfters untergekommen, dass zwei Familien mit kleineren Kindern Quarantäne-Wohngemeinschaften gegründet haben. Auf diese Weise können sich die Eltern gegenseitig entlasten, und die Kinder haben zumindest einen Spielgefährten.

STANDARD: Was können Eltern ihren Kleinkindern geben, um die Isolation zu erleichtern?

Höhl: Für Menschen, egal ob klein oder groß, ist es schlimm, wenn sie kein Kontrollerleben haben. Was heißt das? Man braucht auch während der Corona-Isolation Struktur. Ein gewisses Kontrollgefühl können Eltern ihren Kleinkindern im Alltag geben, indem sie ihnen zumindest mitteilen, was als Nächstes passiert. Die Kinder können vielleicht nicht bestimmen, wann es Mittagessen gibt, aber sie können sich darauf einstellen, das schafft Sicherheit. Um diese Struktur auch für kleine Kinder zu veranschaulichen, kann man etwa einen Tagesplan mit Symbolen für Essen, Spielen, Schlafen oder Lesen zeichnen.

STANDARD: Für die Öffnung der Kindergärten gilt, dass die Betreuerinnen selbst entscheiden können, ob sie einen Mundschutz tragen oder nicht. Hat es denn auf die Kinder einen Einfluss?

Höhl: Für die sprachliche und soziale Entwicklung müssen Kinder Gesichter bzw. beim Sprechen auch die Lippen sehen. Das ist aber im direkten Kontakt mit den Bezugspersonen gegeben. Ich mache mir keine Sorgen, dass bei der sprachlichen Entwicklung Defizite entstehen, weil Menschen in der U-Bahn oder auf der Straße Gesichtsmasken tragen. Wenn Betreuerinnen im Kindergarten nun den ganzen Tag Masken tragen, dann ist das natürlich aus entwicklungspädagogischer Sicht nicht sinnvoll. Was allerdings wichtig ist: Für Kinder ist es anfangs sicherlich beängstigend, deshalb sind die Eltern wiederum gefordert, den Kindern in einfacher Sprache zu erklären, warum jetzt alle Masken tragen. Dazu gibt es ja auch schon online altersgerechte Kinderbücher, die sehr schön erklären, wie die Welt in der Corona-Pandemie nun aussieht.

Generell sollten Eltern die Sorgen und Ängste ihrer Kinder durchaus ernst nehmen und gerade jetzt, in Zeiten großer Unsicherheit, versuchen, so gut es geht verlässlich und liebevoll für sie da zu sein. Dafür braucht es aber auch genügend ausgeruhte und ausgeglichene Eltern, die im Alltagsstress nicht untergehen! (Nadja Kupsa, 27.4.2020)