Wenn Ausgangssperren und "Social Distancing" die neue Norm in unserem privaten und beruflichen Alltag darstellen, sind natürlich auch Archäologen und Archäologinnen gefordert, Arbeiten auf Grabungen, wo in der Regel viele Menschen unterwegs sind, möglichst zu meiden und alternative Beschäftigungen zu suchen. Wäre es deshalb nicht praktisch, eine Grabung mit nach Hause nehmen zu können und quasi Feldforschung in den eigenen vier Wänden zu tätigen?

Eine ganze Grabung als Block zu bergen und daheim auszugraben ist natürlich übertrieben, davon ist auch nicht die Rede. Eine Möglichkeit gibt es jedoch, auf relativ einfache Weise zumindest kleine Stücke einer Grabung mitzunehmen, daheim zu untersuchen und dabei auch noch wichtige Informationen zu erhalten, die auf keinem anderen Weg zugänglich sind. Es handelt sich hierbei um die sogenannte Dünnschliffanalyse, die in diesem Artikel näher vorgestellt werden soll.

Dünnschliffe unter dem Mikroskop.
Woudloper, CC BY-SA 1.0, https://commons.wikimedia.org

Wie der Name schon andeutet, sind Dünnschliffe sehr dünn geschliffene Materialproben von Gesteinen, Artefakten, aber auch in Blöcke geborgene Boden- oder Erdproben, die, in intakter Form und sehr dünn geschliffen, auf einer Plexiglasscheibe konserviert und unter einem Auf- oder Durchlichtmikroskop (in der Regel mit normalem und polarisiertem Licht) auf ihre Bestandteile analysiert werden (für eine Anleitung zur Präparierung sei auf die englischsprachige Seite verwiesen). Durch diesen Vorgang können bestimmte Komponenten eines Gesteins oder Erdmaterials auf ihre Zusammensetzung, Orientierung, Verteilung et cetera untersucht werden.

Historische Zeichnung von Basalt-(Fig. 1–7-) und Nephelinit-(Fig. 8–9-)Dünnschliffen (Möhl, 1873).
Foto: H. Möhl
In Kunstharz gehärteter Block eines Feuchtbodensediments mit herausgesägtem kleinerem Block für den Dünnschliff sowie dem fertigen Dünnschliff selbst.
Foto: Felix Köstelbauer

In der Archäologie kommen Dünnschliffe prominent in der Materialanalyse von Artefakten wie Keramik, Ziegeln, Steinartefakten oder baulichen Bestandteilen vor. Jedoch erlauben Dünnschliffe ebenso jene Herangehensweise, die eingangs wurde, nämlich die Beprobung von Grabungen selbst. Im Speziellen ist hier die Analyse von bestimmten Schichtabläufen, Böden und (menschlich geschaffenen) Sedimenten beziehungsweise Ablagerungen gemeint, die im Zuge von Grabungen freigelegt werden. Die Untersuchung von Schichtabläufen anhand von Dünnschliffen wird allgemein als Mikromorphologie bezeichnet und fußt auf den Arbeiten des österreichischen Bodenkundlers Walter Kubiëna, der die Methode in den 1930ern erstmals anwandte.

Dem Menschen auf der Spur

Auf Grabungen werden Schichten häufig nur als Trägermaterial für die datierbaren Funde angesehen. Jedoch stellen diese Schichten bereits ebenso Artefakte für sich dar, denn überall, wo der Mensch wirkt, hinterlässt er Spuren in Form von stratifizierten Schichtabläufen. Das beginnt schon bei einfachen Grubenverfüllungen oder Planierungen und geht bis hin zu riesigen Abfallhalden. Die Mülldeponien der Gegenwart sorgen so gesehen dafür, dass unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Zukunft noch genug Arbeit haben.

Diese Schichten müssen nicht immer handliche und klar erkennbare Funde aufweisen, das heißt aber nicht, dass sie deshalb leer an Informationen seien. Hier kann die Mikromorphologie helfen, denn unter dem Mikroskop offenbaren archäologische Schichten ihre Eigenheiten, die bei herkömmlichen Untersuchungen mit freiem Auge oft unentdeckt bleiben. Diese kleinen und unscheinbaren Eigenheiten – wie zum Beispiel Sortierung, Anordnung und Aufbau von Sandkörnern, das Vorkommen mikroskopisch kleiner Holzkohle, Kompaktierung des Sediments in bestimmten Lagen – wirken auf den ersten Blick vielleicht banal. Es sind aber genaue jene Spuren, die meist wichtige Rückschlüsse über vergangene Umweltbedingungen, landschaftliche Veränderungen oder gar bestimmte Verhaltensmuster der damals lebenden Menschen liefern, denn irgendwie müssen diese Schichten ja gebildet worden sein.

Sei es nun in Neandertalerhöhlen, prähistorischen Grubenhäusern, römischen Hafenanlagen oder gar mittelalterlichen Latrinen – jede Schicht kann ihre eigene Geschichte erzählen, und sie wartet nur darauf, gehört zu werden. Auf österreichischen Grabungen konnten mittels Mikromorphologie unter anderem Erkenntnisse über temporäre Besiedlungsphasen altsteinzeitlicher Jäger und Sammler wie auch Rückschlüsse über die Witterungsverhältnisse während der Wiederverfüllung beraubter frühbronzezeitlicher Gräber gesammelt werden.

Doch die Möglichkeit der Konservierung und näheren Untersuchung des Aufbaus von Schichten bietet weit mehr als die reine Erforschung von geo- und umweltarchäologischen Ablagerungsprozessen. Ist einmal ein Dünnschliff angefertigt, hält dieser in der Regel (unter den richtigen Lagerbedingungen) noch viele Jahre nach der eigentlichen Grabung. Dies bietet die Möglichkeit, dass Dünnschliffe auch für denkmalpflegerische Interessen eingesetzt werden können, vor allem im Zuge von Rettungs- und Notgrabungen, wo die Zerstörung des Bodendenkmals unmittelbar bevorsteht.

Wiener Dünnschliffproben

Letztes Jahr fand in der Werdertorgasse in Wien eine umfangreiche Grabung statt (DER STANDARD hat berichtet), auf der unter den noch vorhandenen Resten der Neutorbastion aus dem 16. Jahrhundert völlig überraschend eine ältere mittelalterliche Uferbefestigung im Feuchtbodenmilieu entdeckt wurde. Ist eine beinahe perfekt erhaltene hölzerne Konstruktion einer Uferbefestigung bereits außergewöhnlich genug, kamen in den aufgeschütteten und angeschwemmten Sedimenten im Umfeld der Befestigung auch teils mächtige Lagen rein aus scheinbar gut konservierten Traubenkernen zutage. Aufgrund der geringen Zeit, die auf der Grabung gegeben war, war es jedoch nicht denkbar, nähere Untersuchungen an diesen Traubenkernschichten vor Ort zu tätigen. So wurde beschlossen, an einer dieser Schichten Dünnschliffproben anfertigen zu lassen, um diesen bis dato einzigartigen Befund in Zukunft noch genauer und ohne Zeitdruck untersuchen zu können.

Fast acht Monate nach Beendigung der Grabung liegen die Dünnschliffe nun zur weiteren Untersuchung vor und erlauben somit zukünftigen Interessenten, ebenso einen zumindest kleinen Blick in eine Schicht zu werfen, die, mit etwas Pech, so nie mehr wiedergefunden wird. Die einstweiligen Ergebnisse der ersten Untersuchung sind noch sehr unausgereift, versprechen aber jetzt schon interessante Erkenntnisse. So konnten neben den obligatorischen Resten an Traubenkernen in derselben Schicht auch Reste von Keramik und Holzkohle sowie andere organische Reste wie beispielsweise tierische und/oder menschliche Exkremente festgestellt werden. Schon jetzt kann gesagt werden, dass es sich hierbei nicht nur um eine Ablagerung alter Traubenkerne (wie etwa Maische nach der Pressung) handelt, sondern dass an dieser Schicht aktiv gewerkt und weitere Stoffe beigemengt worden sind – allesamt Informationen, die makroskopisch nicht erkennbar und anders wohl für immer verloren wären.

Die Traubenkernschicht (dickes schwarzes Band) aus der Werdertorgasse 6 kurz vor der Bergung von zwei Blöcken für die Präparierung zu Dünnschliffen.
Stadtarchäologie Wien
Einer der angefertigten Dünnschliffe der Traubenkernschicht – im Mikroskop zeigen sich vermutliche Fäkalreste unterschiedlicher Formen (a und b) neben der Außenwand eines Traubenkerns (c), Länge des Maßstabs: 0,5 mm.
Foto: Felix Köstelbauer

Die Analyse mittels Dünnschliffe zeigt sich somit als eine sehr alte, aber recht unkomplizierte und billige Methode, die für unterschiedliche Zwecke angewendet werden kann und doch noch viel Potenzial für zukünftige Entwicklungen aufweist – und das alles mit nötigem Sicherheitsabstand. (Felix Köstelbauer, 23.4.2020)