Unauffällig ist anders: Ein Schiff erstrahlt in der Polarnacht.
Foto: Michael O. Snyder

Mond, Sterne und Aurora borealis – das sind im Wesentlichen die natürlichen Lichtquellen, die die arktische Polarnacht ein bisschen aufhellen. So ist es über ungezählte Millionen von Jahren gewesen, und ebenso ungezählte Massen von Organismen haben sich darauf eingestellt.

Doch im Zeitalter des Menschen ist nichts mehr so, wie es einmal war. Lichtverschmutzung, in dichter besiedelten Regionen schon lange ein Thema, hat auch die Arktis nicht unberührt gelassen. Wenn Schiffe "wie illuminierte Christbäume" durch den dunklen Ozean ziehen, ändern die Organismen in deren Umfeld ihr Verhalten, berichtet ein internationales Forscherteam in der Fachzeitschrift "Communications Biology". Dieses Phänomen zieht sich durch das gesamte Reich des Lebens, von Wirbeltieren bis zum Plankton.

Die Wahrheit liegt im Dunkel

Ein Team um Jørgen Berge von der Arktischen Universität Norwegens hat für seine Studie selbst per Schiff das Nordmeer befahren. Zunächst mit der üblichen Beleuchtung, zwischendurch wurde diese aber auch ausgeschaltet. Und prompt konnten die Wissenschafter alle möglichen Beobachtungen machen, die zuvor ausgeblieben waren. Sie sichteten etwa Seevögel, die in den pechschwarzen Ozean eintauchten, um schwach biolumineszente Meeresorganismen zu fangen. Oder Tiefseefische, die bis auf zwei Meter unter der Meeresoberfläche emporstiegen, um Kelp abzuweiden.

Laut den Forschern absolvieren solche Fische einen permanenten Zyklus vertikaler Wanderungen, die von minimalen Lichtschwankungen gesteuert werden. Diese rein natürlichen Schwankungen werden von künstlichen Lichtquellen aber buchstäblich ausgeblendet. Besonders empfindlich seien Photosynthese betreibende Algen: Sie hätten in ihrem Inneren Zellen, die schon auf ein Millionstel des normalen Tageslichts reagieren. So können sich die Algen schon wochenlang vor dem Ende der Polarnacht langsam aus ihrem Ruhezustand begeben, um dann rechtzeitig aktiv zu werden. Künstliches Licht stört diesen fein austarierten Zyklus.

Tief reichende Störung

Auf einer Fahrt versuchten die Forscher diesen Effekt genauer zu quantifizieren. Sie führten rein akustische Messungen von Fischbeständen bei ein- und ausgeschaltetem Licht durch. Zudem setzten sie eine Reihe von autonomen Wasserfahrzeugen ohne eigene Lichtquellen aus, die sie in wachsender Entfernung zu ihrem Schiff positionierten. Sie kamen zum Ergebnis, dass ein Schiff eine Lichtsphäre produziert, die viel tiefer reicht als gedacht: Sie beeinflusst das Fischverhalten nicht nur in der Oberflächenschicht, sondern bis in 200 Meter Tiefe.

Berge und seine Kollegen kommen zum Schluss, dass auf herkömmliche Weise durchgeführte Expeditionen nur bedingt dafür geeignet sind, das nächtliche Leben im Arktischen Ozean zu studieren. Ein voll erleuchtetes Forschungsschiff würde Bedingungen schaffen, die sonst nicht gegeben wären, und dadurch auch ein Verhalten hervorrufen, zu dem es sonst nicht käme. Der Effekt erinnert fast an die Quantenphysik: Das Ergebnis wird durch die Messung selbst verfälscht.

Allerdings werden diese unnatürlichen Bedingungen bald immer normaler werden, fürchten die Forscher: Durch die Klimaerwärmung und den Rückgang der polaren Eisflächen wird die Arktis künftig leichter nutzbar, sei es für den Gütertransport, den Tourismus oder die Rohstoffgewinnung. Es könnten in absehbarer Zeit also ganze Wälder von leuchtenden Christbäumen in der Polarnacht erblühen.

Unerwünschte Schlussfolgerungen

Eines der Studienergebnisse indes könnte zu Schlussfolgerungen führen, die von den Forschern wohl nicht beabsichtigt waren. Jonathan Cohen von der University of Delaware berichtet nämlich, dass viele Fische ein Vermeidungsverhalten gegenüber dem künstlichen Licht zeigen. Unter einem Schiff in voller Arbeitsbeleuchtung ist ihre Dichte deutlich geringer als unterhalb der unbeleuchteten autonomen Fahrzeuge.

Es sind aber die Messdaten genau solcher Schiffe, auf denen die Berechnungen der Bestandszahlen von Fischen beruhen. Und aus diesen wiederum werden Fangquoten abgeleitet. Cohens Angaben könnten in den Ohren der Fischereiindustrie also auch so ankommen: Da ist doch noch mehr aus dem Ozean rauszuholen, als man uns bislang glauben machen wollte ... (jdo, 25. 4. 2020)