Georg Delle Karth ist Vorstand der Abteilung für Kardiologie im Wiener Krankenhaus Nord.
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Möglicherweise haben Menschen derzeit Angst davor, ins Spital zu gehen, und bleiben mit Brustschmerzen eher daheim, sagt der Kardiologe.
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STANDARD: Infekte sind ein bekannter Auslöser für Herzinfarkte. Warum gibt es dann in der Corona-Krise weniger und nicht mehr?

Delle Karth: Bisher ist noch nichts bewiesen, und wir sprechen hier von reinen Hypothesen. Zwar sind respiratorische Infekte ein Trigger für Herzinfarkte, aber in Österreich haben wir ja nicht tausende Covid-Patienten mit einer Herzkrankheit, die das betreffen könnte. Tatsächlich wurde aber auch in Oberitalien beobachtet, dass die Infarktrate während dieser Zeit abgenommen hat. Dafür kann es verschiedene Ursachen geben. Eine könnte sein, dass die Patienten jetzt größere Angst davor haben, ins Spital zu kommen, und mit Brustschmerzen eher zu Hause bleiben. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Zeitspanne vom Auftreten eines Infarkts bis zu dem Zeitpunkt, wo Hilfe geholt, also die Rettung alarmiert wird, länger wird – das scheint ein signifikanter Trend zu sein. Aktuell werden Untersuchungen dazu gemacht.

STANDARD: Aber bei einem Herzinfarkt kann man doch nicht einfach daheim bleiben. Damit wird man doch nicht selbst fertig wie mit einer Erkältung.

Delle Karth: Bei einem schweren Herzinfarkt wird niemand lange zögern. Aber es gibt unterschiedliche Manifestationen, etwa auch nicht so schlimme Herzinfarkte, bei denen die Schmerzen kommen und gehen oder gar für Stunden oder Tage wieder verschwinden. In Italien wurde bei leichten Infarkten ein Rückgang gesehen.

STANDARD: Haben Sie auch beobachtet, dass die Zahl der Patienten zurückgegangen ist?

Delle Karth: Im März hat bei uns die Zahl noch nicht drastisch abgenommen. Im April hatten wir aber ebenfalls weniger Infarkte. Noch ist es allerdings schwer, hier einen Trend abzulesen. Die Entwicklung ist aber auch von Zentrum zu Zentrum sehr unterschiedlich. In einigen Spitälern ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gleich geblieben, in anderen scheint der Rückgang stärker spürbar – etwa in Oberösterreich. Auch in Oberitalien hat die Zahl der Herzinfarkte flächendeckend abgenommen. Dort wurde allerdings auch die kardiologische Versorgung auf wenige Zentren reduziert, um mehr Betten für Covid-Patienten frei zu haben. Möglicherweise ist auch der schwerere Zugang zu Kardiologien ein Grund für den Rückgang der Zahlen.

STANDARD: Was könnten weitere Gründe sein?

Delle Karth: Bei den Betroffenen hat sich eine koronare Atherosklerose oft über Jahre entwickelt. Ein Herzinfarkt geschieht dann nicht aus heiterem Himmel, sondern es gibt verschiedene Triggerfaktoren, die als Auslöser infrage kommen. Diese werden seit Jahren untersucht, dazu gehören etwa emotionaler Stress, körperliche Belastung, Schlafentzug oder auch zu viel Essen. Nach der Corona-Krise werden wir in Studien sehen, welche Ursachen der Rückgang der Zahlen hatte. Derzeit ist unser gesellschaftliches Leben deutlich zurückgefahren, möglicherweise gibt es dadurch auch weniger emotionale Stressfaktoren. Auch Zorn und Wut können einen Herzinfarkt auslösen. Wir wissen etwa, dass während der Fußball-WM 2006 in Deutschland die Infarktrate während der Spiele um mehr als das Doppelte zugenommen hat.

STANDARD: Möglicherweise ist durch die Ausgangsbeschränkung die Feinstaubbelastung zurückgegangen, auch wenn es noch keine genauen Zahlen dazu gibt. Könnte das auch eine Erklärung sein?

Delle Karth: Ja, das ist eine Möglichkeit. Luftverschmutzung wird häufig als atypischer Risikofaktor genannt. Auch das wird interessant sein, in Zukunft näher zu untersuchen.

STANDARD: Deuten Betroffene möglicherweise ihre Beschwerden falsch?

Delle Karth: Ich glaube nicht, dass das ein flächendeckendes Problem ist, also dass Herzinfarktpatienten bei Brustschmerzen nun eher an Covid-19 denken. Eher ist es umgekehrt, dass eine Corona-Infektion für einen Herzinfarkt gehalten wird.

STANDARD: Im "Spiegel" berichtet eine Herzinfarktpatientin davon, dass sie gezögert hat, ins Spital zu gehen, weil sie dort derzeit keinen Besuch bekommen kann. Was sagen Sie dazu?

Delle Karth: Für ältere Menschen, die mit den neuen Medien nicht vertraut sind, sind Spitalsaufenthalte derzeit sicher emotional belastender als sonst. Auch wir lassen derzeit nur in individuellen Ausnahmefällen Besucher zu – das ist zum Schutz der Patienten notwendig.

STANDARD: Wurden schwer erkrankte Covid-Patienten, deren Todesursache möglicherweise ein Herzinfarkt war, in den letzten Wochen nicht als Herzinfarktpatienten registriert?

Delle Karth: Das ist ebenfalls eine Möglichkeit. Bei einer Corona-Infektion mit schwerer Sauerstoffunterversorgung kann es natürlich zu einem Herzinfarkt kommen – hier ist eine Dunkelziffer denkbar. Bei einer Obduktion dürfte sich aber auch schwer feststellen lassen, was am Ende tatsächlich zum Tod geführt hat. Ähnlich ist es übrigens auch bei der Grippe. Wenn sie einen Herzinfarkt auslöst, ist es ebenfalls eine Definitionsfrage, woran man gestorben ist.

STANDARD: Wären einige der Covid-Todesopfer ohne die Infektion im selben Zeitraum möglicherweise auch gestorben – nur dann etwa an einem Herzinfarkt?

Delle Karth: Es ist sehr schwer zu sagen. Man kann jedenfalls nicht argumentieren: "Die wären sowieso gestorben."

STANDARD: Hatten Sie auch schon mit Patienten zu tun, die unsicher waren bzw. gezögert haben, bevor sie ins Spital gekommen sind?

Delle Karth: Es gibt viele Patienten, die anrufen, von Beschwerden berichten und wissen wollen, ob sie kommen sollen.

STANDARD: Verlieren Herzpatienten durch die Corona-Maßnahmen gesunde Lebensjahre?

Delle Karth: Wir haben sehr darauf geachtet, dass nur Eingriffe verschoben werden, bei denen die Patienten dadurch nicht zu Schaden kommen, viele haben wir auch telefonisch betreut. Die Behandlungen wurden insgesamt um 30 bis 40 Prozent reduziert. Bei Beschwerden haben wir nicht gezögert und weiterhin Herzkatheter-Untersuchungen durchgeführt. Wenn es noch monatelang so weitergehen würde, könnte das bestimmt zum Problem werden. Doch wir planen bereits, die Systeme wieder hochzufahren und auch Routineeingriffe wieder durchzuführen. Es geht ja auch um die Lebensqualität der Patienten, und dazu gehört, dass wir die notwendige Versorgung anbieten. (Bernadette Redl, 23.4.2020)