Eine "neue Meisterin" der Literatur: Mariam Kühsel-Hussaini.

Foto: Patrick Bienert

Wer auf die tägliche Portion Corona nicht verzichten kann, wird sich freuen, dass er auch in Mariam Kühsel-Hussainis viertem Roman einem Maskenträger begegnet. Allerdings hat es Hugo von Tschudi nicht mit der Lunge, er leidet an der Autoimmunerkrankung Lupus, die im Laufe des Romans nicht nur sein verboten attraktives Äußeres, sondern auch seine Psyche zerfrisst.

Franzosen in Berlin

Zu seiner Sonderausstellung als Direktor der Berliner Nationalgalerie – hier steigt Hussainis phänomenaler Roman ein – braucht er aber noch keine Verhüllung. Noch strahlt er mit den gezeigten Bildern um die Wette: Er zeigt französische Impressionisten im kaiserlichen Berlin. "Das erste Mal. Weltweit.", wie Kühsel-Hussaini, die neben langen, sprachlich formvollendeten Perioden eben auch ein Händchen für Werbetexte zu haben scheint, klarstellt.

Und damit ist auch schon angedeutet, dass Tschudis Kunstverständnis nicht jedermanns Sache ist, besonders nicht die des Kaisers, vor dessen ungläubigen Augen die Schinken der deutschen Maler und damit der ganze Nationalstolz ins Depot wandern.

Aufbruch in der Moderne

Alt versus Neu – darauf ließe sich Kühsel-Hussainis Buch schon herunterbrechen – mit Tschudi als strahlender Personifikation der Moderne, des beginnenden 20. Jahrhunderts, dessen dunkle Momente sich schon, sozusagen als "Foreshadowing", an den Hautfetzen ablesen lassen, die sich von diesem Schweizer Riesen schälen. Dahinsiechende Männer – wir denken an den Zauberberg, wo wir auch wieder bei der Lunge wären – tragen die Krankheit ja nicht nur in sich, sondern gern auch als Metapher vor sich her.

Kühsel-Hussaini vermag aber viel mehr. Allein ihre Bildbeschreibungen suchen ihresgleichen. Das fundierte kunsthistorische Wissen, das da in jedem Satz durchblitzt, ohne je schulmeisterlich anzumuten, wird noch einmal von der Fähigkeit übertrumpft, diese Gemälde als die Novität zu zeigen, als die sie für einen zeitgenössischen Betrachter gewirkt haben müssen. "Ut pictura poesis" trifft es hier ganz gut: Mit den Mitteln der Literatur schafft Kühsel-Hussaini dieselben Effekte, wie die Bilder es einst taten (und vielleicht noch tun).

Vernichtende Gedanken im Gewand

Nicht anders verfährt sie auch mit den Charakteren, von denen jeder und jede bis ins letzte Detail – oft auch mit einem launigen Willen zur Übertreibung – porträtiert ist – ganz so eine große Dumpfbacke, wie sie ihren Kaiser Wilhelm II. sein lässt, wird er vielleicht nicht gewesen sein. Kühsel-Hussaini braucht dazu auch manchmal nicht mehr als einen langen Satz. Über Richard Wagners zweite Ehefrau Cosima schreibt sie: "Diese Frau war ja eigentlich spektakulär, mit ihrem eigenartigen Gesicht, den hoffnungsvollen Augen und der düsteren Architektur ihrer Gewänder, all die schwarzen Schleifen, die flüsternden Stickereien, die man nicht kaufen konnte im Warenhaus, sie waren das Werk ihrer eigenen langen Finger und all jener vernichtenden Gedanken, die sie niemandem erzählen konnte, die verarbeitete sie dort hinein."

Da mag die Syntax ächzen, aber man weiß genau, mit wem man es zu tun hat. "Tschudi" ist, wie man sich schon denken kann, etwas für die Liebhaber der großen Geste, der Psychologisierung, der Adjektive. Und man sollte sich auch nicht vor großen Themen scheuen: Tod. Liebe und Kunst. Der Kunst als Liebe. Ein Volltreffer. (Amira Ben Saoud, 22.4.2020)