Jeanine Cummins hat sich mit guten Absichten in eine heftige Debatte hineingeschrieben. Ihr Buch "American Dirt" lebt von den Schilderungen der Flucht – da wiegt Authentizität schwer.

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Der Tischschmuck mit Stacheldraht bei einer Party für das Buch "American Dirt" irritierte manche.

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"La Bestia" heißt der Zug, mit dem mexikanische Migranten zur US-Grenze aufbrechen. Auch in Jeanine Cummins’ "American Dirt".

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Lydia und ihr Sohn Luca entgehen dem Massaker des Drogenkartells Los Jardineros nur knapp. Während einer Geburtstagsfeier ist der Killertrupp in ihr Haus in Acapulco gestürmt und hat alle anderen 16 Gäste erschossen. Nur Mutter und Sohn konnten sich am Klo verstecken. Sie müssen jetzt aber fliehen, denn Lydias Mann ist dem Kartell als Journalist zu nahe gekommen. Lydia und Luca machen sich illegal auf den Weg in die USA – auf dem Dach eines Zuges wie unzählige andere mexikanische Einwanderer auch. "La Bestia" trägt sie nun in einer tagelangen Odyssee tausende Kilometer gen "el norte".

Jeanine Cummins’ Roman American Dirt löste bei seinem Erscheinen Anfang des Jahres in den USA einen ziemlichen Wirbel aus. Er erhielt zwar auch Unterstützung von mexikanischen Autoren. Doch er bediene Stereotype, lauteten Vorwürfe. Ärger erregte auch, dass das Buch von riesigem Medienecho begleitet wurde und Cummins vom Verlag einen siebenstelligen Vorschuss erhalten haben soll. Warum müsse eine weiße Autorin über Migranten schreiben, wo lateinamerikanische Autoren von US-Verlagen kaum verlegt werden? Das gleiche Buch einer Latina hätte nicht so viel Unterstützung erfahren.

Cummins verfolgt einen Spannungsplot mit dramatischen Wendungen und emotionalen Stellen, auch etwas kitschiger Romantik.

Recht auf Fantasie

Jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen. Sie sei zu einem Viertel Puerto-Ricanerin und seit 2005 mit einem illegalen Einwanderer verheiratet, erklärt Cummins im Nachwort. Sie habe sich außerdem jahrelang in die Welt der Kartelle und Migranten eingelesen und auch vor Ort recherchiert.

Cummins glaubte dabei an ein grundlegendes Selbstverständnis von Literatur: Autoren können sich in Rollen versetzen, um Lesern Erfahrungen zu ermöglichen. Diese Annahme gerät unter dem Schlagwort "kulturelle Aneignung" aber gerade in Bedrängnis. Das Argument lautet, Cummins eigne sich in kolonialistischer Manier die Geschichte einer Minderheit an und schlage daraus Profit.

Als Gegenmittel haben im amerikanischen Literaturbetrieb sogenannte Sensitivity-Reader Einzug gehalten. Ursprünglich in der Kinder- und Jugendliteratur eingesetzt, schwappten sie vor einigen Jahren in die Erwachsenenliteratur über. Skeptiker deuten diese pädagogische Herkunft als vielsagend. Solche Sensitivity-Reader suchen in Texten (unbewusste) Stereotype sexueller Minderheiten, verletzende Wortwahl in Bezug auf Religionsgruppen oder ethnische Klischees – auch die Darstellung von Behinderung kann Thema der Scans sein. Sie betrachten Plots genauso kritisch wie die potenziell verletzende Beschreibung von Äußerlichkeiten.

In den USA wurden Bücher nach Shitstorms in sozialen Netzwerken bereits überarbeitet und neu gedruckt. Kritiker reden von Zensur, warnen vor einem Diskurse hemmenden Zwang zu politischer Korrektheit und fürchten um die künstlerische Freiheit.

Ästhetik und Authentizität

Hierzulande ist das Phänomen noch klein. Manche betrachten es eher spöttelnd, es gehe dabei um Befindlichkeit und Hypersensibilität. Verlage wie Hanser, Suhrkamp und Rowohlt (wo American Dirt erschienen ist) verneinen auf Anfrage, mit Sensitivity-Readern zu arbeiten. Lektoren im Haus würden "neben ihrem Feingefühl für Fragen von Sprache, Stil und Darstellung auch alle weiteren Lesarten der Texte vertrauensvoll mit den Autoren besprechen".

Elif Kavadar und Victoria Linnea, die über die Plattform sensitivity-reading.de Kontakte vermitteln, würden dem widersprechen. Ihnen ist wichtig, dass ihre Lektoren über theoretisches Wissen hinaus selbst Betroffene sind. Der eine Aspekt davon ist Repräsentation: Wer darf für wen sprechen? Der andere Aspekt dreht sich um Authentizität: Wie angemessen kann man sich zu Erfahrungen äußern, die man nicht gemacht hat? Wer auch liest, um etwas über die Welt zu lernen, kann moralisch-ethische Kritik neben ästhetischer nachvollziehen.

Es erscheint als Bestätigung des Anliegens, dass Olga Tokarczuk in ihrer Rede zum Nobelpreis voriges Jahr sagte, sie werde oft gefragt, ob das, was sie schreibe, "wirklich wahr" sei. Sie sieht diese Frage allerdings als Rückschritt der Kultur und bringt die Skepsis gegenüber der Fiktion mit dem Begriff der Fake-News zusammen: Leser, die damit politisch desinformiert würden, hätten das Vertrauen in die Kraft von Erfindung verloren. (Michael Wurmitzer, 23.4.2020)