Im Gastkommentar zeigt Bioethikerin Christiane Druml die Folgen einer anhaltenden Isolation der älteren Generation auf und fordert das respektvolle Miteinander aller Menschen.

In Deutschland ist eine heftige Diskussion entbrannt, ob sich einzelne Gruppen der Bevölkerung nicht noch auf monatelange Einschränkungen einstellen und sich in Quarantäne begeben müssen. Der deutsche Kanzleramtsminister Helge Braun will die älteren und vorerkrankten Menschen in der Gesellschaft aus dem sozialen Leben ausschließen, um sie – solange es keinen Impfstoff gibt – "wirksam" vor einer Infektion mit Covid-19 zu schützen. Eines der Argumente ist, dass die Wirtschaft weiterlaufen müsse. Auch in der Schweiz gibt es Stimmen, dass Alte und Gefährdete davon überzeugt werden müssen, länger "eingesperrt" zu bleiben, damit Junge und Ungefährdete zurück zur Arbeit könnten.

Nachbarn lauschen einem Balkonkonzert in Dortmund.
Foto: APA / AFP / Ina Fassbender
Künftig muss trotz Anti-Corona-Maßnahmen für Alt und Jung gesellschaftliche Teilhabe möglich sein.
Foto: APA / AFP / Ina Fassbender

Ständiges Mantra

Seit Beginn des Corona-Ausbruchs hören wir immer wieder, dass wir die Älteren, um sie zu schützen, isolieren müssen, und dass die Kinder ihre Eltern und vor allem auch die Enkelkinder ihre Großeltern nicht sehen und besuchen dürfen, um sie nicht zu gefährden. Stimmt dieses – auch in der Werbung – ständig wiederholte Mantra? Sind die Jungen gefeit und unverwundbar wie Achilles? Kann ihnen Corona nichts anhaben und sind nur die älteren Menschen (hier schwanken die genannten Altersgrenzen) schon ab 65, ab 70 oder erst ab 80 Jahren gefährdet?

Die rezenten wissenschaftlichen Publikationen sind sich hier einig: Alte und hochbetagte Menschen sind in allen Covid-19-Statistiken diejenigen mit der höchsten Letalität, aber die Darstellung, als würde jeder, der in dieser Altersgruppe erkrankt, massiv betroffen sein und auch sterben, ist falsch. Andererseits gibt es leider auch jüngere und ganz junge Menschen, die schwer erkranken, und sogar an Covid-19 sterben. In Italien sind fast 15 Prozent der Patienten auf Intensivstationen unter 50, auch sind dort bis zum 21. April 140 Ärzte, die aktiv tätig waren, gestorben. Laut WHO gab es bereits Anfang April Berichte aus verschiedenen Ländern über jüngere schwer erkrankte Patienten, die vorher keine Begleiterkrankungen hatten und vielfach auch an der Erkrankung starben.

Wird aber ständig betont, dass es nur die Omas und Opas trifft, werden jüngere Menschen sorglos und glauben, keine Vorsicht in der Vermeidung einer Ansteckung walten lassen zu müssen. Nimmt die Unzufriedenheit mit der nun doch schon länger andauernden Isolation zu, werden die Älteren auch als die Schuldigen gesehen. Schuldig, weil sie geschützt werden müssen und es dadurch den Jüngeren verwehren, ihr Leben zu leben. Schuldig, weil sie es der Wirtschaft verunmöglichen, zu florieren. Natürlich müssen sie in einer dem Humanismus verpflichteten Gesellschaft geschützt werden, aber um welchen Preis? Ein bekanntes Sprichwort sagt "Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert" und gut gemeint muss nicht immer gut sein.

Massive Änderungen

Wir müssen uns Wege einfallen lassen, wie unsere in den vergangenen Jahren bewusst der Inklusion verpflichtete Gesellschaft auch weiterhin ihren Sinn in einem gemeinsamen Leben aller Generationen leben kann. Ganz abgesehen von der massiven Verletzung der Grundrechte und der Diskriminierung der Generation der Eltern, wie können wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der alle ab 65 oder 70 am öffentlichen Leben und vor allem auch am gemeinsamen Familienleben nicht mehr teilhaben sollen? Eine Gesellschaft, in der die Menschen mit ihrem Pensionsantritt weggesperrt werden, bedeutet massive Änderungen:

Das passive Wahlrecht zum Bundespräsidenten? Bitte Bewerbungen nur bis Mitte 50! Richter am Verfassungsgerichtshof? Bitte ebenfalls zehn Jahre kürzer im Amt! Schauspieler am Burgtheater oder im Sonntagabend-Tatort? Otto Schenk oder Christiane Hörbiger? Oder für die globalen Bürger Clint Eastwood und Meryl Streep? Bitte, nur mehr über Zoom oder Webex. Die Rollen älterer Personen müssten durchgehend von jüngeren Schauspielern gespielt werden! Universitätsprofessorinnen? Bischöfe und Kardinäle, Wissenschafterinnen? Künstler? Oder Nobelpreise? Die müssten des Schutzes wegen von Stellvertretern entgegengenommen werden? Der Ausgezeichnete dürfte dann die Zeremonie via Streaming im Internet anschauen!

Respektvolles Miteinander

Braun will also, solange keine Impfung verfügbar ist, eine verpflichtende Quarantäne für Ältere. Aber wann eine wird es eine solche Impfung geben? Bis jetzt gibt es sie nicht. Auch gegen HIV gibt es noch keine Impfung und HIV ist seit Beginn der 1980er Jahre bekannt – exorbitant hohe Summen sind in die Forschung investiert, dennoch gibt es hier keinen Erfolg. Das Virus und all seine Begleiterscheinungen werden uns noch lange begleiten. Wir müssen also eine Balance entwickeln, wie wir gleichzeitig alle vulnerablen Personen und Gruppen – und das sind eben nicht nur die Älteren – bei gleichzeitig maximal möglicher Freiheit für alle Menschen schützen. Da sind einfache Lösungen nicht möglich.

Unser Verständnis vom Zusammenleben aller Menschen beruht auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung, der Fürsorge, der Solidarität, des Respekts und der Gerechtigkeit. Altersdiskriminierung beschränkt die Möglichkeit der Teilhabe von Menschen, ihre Ressourcen und Lebenschancen werden massiv beschnitten. Aber nicht nur ihre, sondern letztlich die unserer gesamten Gesellschaft, die auf einem respektvollen Miteinander beruht.

Gefährliche Debatte

Wenn Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, in einem Interview mit dem Tagespiegel Anfang April sagt, "es müsste vermehrt soziale Anreize geben, dass jemand, der zur Risikogruppe gehört und noch kein Rentner ist, es sich überhaupt leisten kann, Zuhause zu bleiben", dann erstaunt es doch, dass er nicht sofort auf die Barrikaden steigt, um einer derartigen gesellschaftlichen Möglichkeit eine deutliche Absage zu erteilen. Wir können nur alle gemeinsam ein gelingendes Leben führen. Hüten wir uns vor einer gesellschaftlichen Debatte, die alt gegen jung ausspielt. (Christiane Druml, 23.4.2020)